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Wagenrennen auf dem zugefrorenen Lake Superior bei Ashland in Wisconsin

Wagenrennen auf dem zugefrorenen Lake Superior bei Ashland in Wisconsin

© Nicolas van Ryk

Madeline Island in Wisconsin im Lake Superior ist eine heilige Stätte für die Ojibwa-Indianer.

Madeline Island in Wisconsin im Lake Superior ist eine heilige Stätte für die Ojibwa-Indianer.

© Nicolas van Ryk

Fähre nach Madeline Island im Superior Lake

Fähre nach Madeline Island im Superior Lake, der einzigen bewohnten Insel der Apostle Islands National Lakeshore, Wisconsin

© ITER USA

Der Lake Superior ist ein Paradies für Naturliebhaber.

Der Lake Superior ist ein Paradies für Naturliebhaber.

© ITER USA

Ladengeschäft in Bayfield am Lake Superior in Wisconsin

Ladengeschäft in Bayfield am Lake Superior in Wisconsin

© Nicolas van Ryk

Glensheen Mansion in Duluth in Minnesota

Glensheen Mansion in Duluth in Minnesota

© Nicolas van Ryk

Der alte Schlepper „Edward H.“ tat bis 2017 im Hafen von Duluth seinen Dienst.

Der alte Schlepper „Edward H.“ tat bis 2017 im Hafen von Duluth seinen Dienst.

© ITER USA

Blick auf die Skyline von Minneapolis Downtown in der Dämmerung, vorne die Stone Arch Bridge

Blick auf die Skyline von Minneapolis Downtown in der Dämmerung, vorne die Stone Arch Bridge

© Fotolia – f11photo

Das wahre Amerika führt zu den Great Lakes nach Minnesota und Wisconsin.

Nicolas van Ryk (Bilder und Text)

Sam Carrier tippt nur kurz an das Steuerrad seiner Fähre. Der Fährfrachter braucht 20 Minuten von Bayfield hinüber zur Madeline Island. Es kracht und knackt, wenn das Schiff Eisschollen in der Fahrrinne zerbricht. „Um diese Jahreszeit ist es fast eine Leerfahrt. Die 247 Bewohner bekommen die Post rübergefahren. Im Sommer sind zehnmal mehr Gäste auf der Insel“, weiß der 29-jährige Carrier. Die Insel ist mit 20 Kilometern Länge und teils fünf Kilometern Breite die größte der 20 Apostle Islands im Norden Wisconsins an der Chequamegon Bay des Oberen Sees, dem größten der fünf Großen Seen Amerikas. 

In der noch frostigen Zeit des Vorfrühlings sind die wenigen Besucher und die Einheimischen auf Madeline Island unter sich. Das Farmhaus-Museum zeigt das Felljäger- und Holzhackerleben der weißen, vorwiegend norwegischen Einwanderer. Eine Krankenstation, ein Hafencafé und ein Lebensmittelgeschäft haben ganzjährig geöffnet. Es veranschaulicht auch, was nicht besichtigt werden kann, was aber da ist: das „Wesen, geschaffen aus dem Nichts“. So der Stammesname der Ojibwa-Indianer, dem „ersten Volk“. Knapp 78.000 dieses „ersten Volkes“ leben noch heute verteilt rund um den Lake Superior, wie der Obere See hier genannt wird. Für diese Ureinwohner ist Madeline Island eine Art Pilgerstätte ersten Ranges. Es gibt keine Reliquien, keinen Besichtigungsort, keinen Pilgerpunkt. Es ist ein Wesen aus dem Nichts, und gerade in der Vorsaison ist dieses Nichts im Nichts am besten zu besichtigen. Eine Besichtigungsstätte der besonderen, spirituellen Art. In der warmen Zeit, wenn die Ojibwa ihren Flachwasser-Reis hier anbauen, ist es zwar angenehmer. Doch dann schwirren Myriaden von Mücken um einen herum. Denn Wasser gibt es genug im „Land der zehntausend Seen“, wie Minnessota im mittleren Norden der USA auch genannt wird. Das gilt auch für den Nachbarstaat Wisconsin. „Land des klaren Wassers“ heißt die Region bei den Ojibwa, die seit über 500 Jahren in den beiden Staaten die Ersten am Platz (Native Americans) sind. 

Schwarzwald lässt grüßen

Eisfischen ist im Winter eine beliebte Freizeitbeschäftigung. Perch, Bluegrill, Crappie, Northern Pike und Walleye sind die Namen der Fische aus den vielen zugefrorenen Seen. Das feine, weiße Fleisch des Walleys vom Gunflint Lake schmeckt besonders gut. Dieser kleine See liegt im Nordosten Minnesotas. Das gegenüberliegende Ufer ist bereits Kanada. Jeder kann über das tiefgefrorene Wasser gehen; eine Mauer zum Nachbarstaat gibt es nicht. Adam Treeful bietet hier Hundeschlittentouren im Winter an. Seine acht Huskies mit Namen wie Roggen, Reis, Okie oder KitCat hat er ins Herz geschlossen. Sein Ururgroßvater stammt aus dem Schwarzwald. Da ist sein Nachname „Baumvoll“ vielleicht ganz passend. Von Einwanderungsgesetzen hält er nicht viel. „Wer kommt, kommt“, und befiehlt seinem Hundegespann loszulegen. Die ziehen voller Ungeduld kläffend den Jagdtrail entlang.

Adam gehört zu dem Drittel der Einwohner Minnesotas, die deutsche Vorfahren haben. Ganz viele davon sind nach der gescheiterten Revolution von 1848 aus Deutschland ausgewandert. Arm, betrogen und ihrer Freiheit beraubt, haben sie sich von der Heimat abgewandt, sind voller Erwartungen in die Neue Welt gepilgert und haben dort eine Heimstatt gefunden. Schlittenführer Adam kann verstehen, dass Hispanics aus Mexiko „zu uns kommen“, wie er sagt. „Lassen wir sie leben, so wie wir diese Chance hatten.“ 

Der Lake Superior, etwa so groß wie Österreich, friert auch im Winter bei Celsiusgraden von minus 20 kaum zu. „Dritter Ozean“ nennen ihn die Bewohner Duluths. Auch sie hatten ihre Chance. Nachdem in den 1970er Jahren die Eisenerzindustrie verfiel, hat die 90.000-Einwohner-Stadt ihren wirtschaftlichen Wechsel vor allem mit Tourismus geschafft. Hallen am Erzhafen wurden teilweise umgewandelt in Hotels, Bars und Restaurants. Ein Seemuseum und Skilifte am Spirit Mountain – eine weitere Pilgerstätte der Ojibwa – kamen hinzu. 

Bob Dylan war hier

„The Times They Are A-Changin’“, singt Bob Dylan zurecht. Der Literaturnobelpreisträger wurde 1941 als Robert Allen Zimmerman in Duluth geboren. Sein Geburtshaus kann man besichtigen. Aber wie ein „Wesen aus dem Nichts“ kennt kaum jemand dieses Haus an den Hängen der mittleren Midwest-Kleinstadt. Selbst bei Wikipedia wird ein anderes Haus aus einem anderen Ort gezeigt. Das echte Geburtshaus – für Dylan-Fans mehr als eine echte Pilgerstätte – entzieht sich allem Trubel. Niemand lässt sich blicken, auf der Veranda steht ein verwaister Stuhl. Bob nicht allein zu Haus, keiner da. Ganz wie beim Nobelpreisakt. Ein Privatmann wohnt heute darin, es gehört irgendjemandem, ein mittelalter Caravan parkt im Hofeingang

Promise Land

Bloß keine Aufregung, no show, please. Das unaufgeregte, das andere Amerika hat auch in Minnesota eine Heim- und Pilgerstatt. Weder die Osküste mit ihren Hampton-Snobs noch die Californication des Westens oder das warme Florida der Alten im Süden sowie der industriell-fromme Rust-and-Bible-Belt sind Amerika. Vielmehr das ländlich-liberale Amerika der Great Lakes. Minnesota hat bei der jüngsten Präsidentenwahl mehrheitlich demokratisch gestimmt. Wisconsin, dessen eine Bevölkerungshälfte deutsche Vorfahren hat, hat sich knapp für Trump aus der Pfalz entschieden. Doch es ist wie auch schon Minnesota ein Swing State. Mal demokratische Sieger-esel, mal republikanische Elefantentrumpel. Fettes Barbeque und Belesenheit sind hier kein Widerspruch. 

In den Twin Cities Minneapolis und Saint Paul, getrennt nur durch den Mississippi, gibt es 40 Theater. Das ist nach New York City die zweithöchste Schauspieldichte. Das „Guthrie Theater“ in Minneapolis spielt nicht von ungefähr „Promise Land“. In der Hauptstadt Saint Paul regiert derzeit Gouverneur Mark Dayton von der „Demokratischen Farmer- und Arbeitspartei“. Der Parteiname ist Programm: mittlerer Westen gleich Farmer und Arbeiter gleich liberale Demokraten. Hervorgegangen aus dieser liberaldemokratischen Tradition sind sogar zwei Vizepräsideten in der US-Geschichte. Hubert H. Humphrey war Lyndon B. Johnsons zweiter Mann von 1965 bis 1969, und der 90-jährige Walter Mondale – ein Nachfahre norwegischer Holzfäller und Felljäger – war Jimmy Carters Running Mate von 1977 bis 1981. Gegen Reagan verlor er grandios die Präsidentschaftswahl. Nur Washington D.C. und seine Heimat Minnesota stimmten für Mondale mit zusammen 13 Wahlmänner-Stimmen gegen 525 für Reagan.

Super Bowl und Prince

Der 52. Super Bowl, das jährliche Endspiel der „National Football League“, wurde 2018 im für fast eine Milliarde Euro neu erbauten „US Bank Stadium“ auf dem Gelände des vormaligen „Hubert H. Humphrey Metrodome“ in Minneapolis ausgetragen. Dieses Endspiel ist mit weltweit fast einer Millarde Zuschauern das Fernsehereignis des Jahres. In der Halbzeitpause erinnerte Justin Timberlake an den Popsänger Prince und spielte „I Would Die 4 U“, wobei der verstorbene Musiker auf einer großen Leinwand zu sehen war.

Am Stadtrand von Minneapolis, im Vorort Chanhassan, liegt Paisley Park. Ahnungslose fahren an dem 1980er-Jahre-Komplex schnell vorbei. Hier hatte Prince sein Haus. Es war und ist ein Riesenmusikstudio mit nun ungenutztem Wohnbereich. Prince hat hier gelebt, gearbeitet, produziert und ist hier am 21. April 2016 an den Folgen einer Überdosis eines Betäubungsmittels gestorben.

Im Foyer seines ehemaligen Komplexes hängt etwas abgerückt ein Glaskasten mit seiner Asche. Für 100 Dollar gibt es eine Führung durch die Studio-räume. Alles sieht so aus wie gerade abgebrochen. Musikinstrumente stehen rum, goldene Platten und Grammies verzieren die Wände. Fotografieren ist streng verboten. Privaträume sind nicht begehbar. Am Platz seines Lebens und Sterbens entzieht sich Prince seinen Fans ähnlich wie die Ablehnung seines Künstlernamens „Prince“ zugunsten eines Symbols. Paisley Park ist wie Prince selbst, eine Pilgerstätte und „Wesen, geschaffen aus dem Nichts“. Sehr unprätentiös, sehr indianisch, sehr Ojibwa.