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Reportagen

Wo die Straßen enden

Der Stamm der Baka-Pygmäen im Süden Kameruns lebt seit Jahrtausenden im Wald. Doch seit Holz- und Bergbauunternehmen auf der Jagd nach Gewinn in ihr Reich eindringen, ist ihre uralte Tradition in Gefahr.

Der Stamm der Baka-Pygmäen im Süden Kameruns lebt seit Jahrtausenden im Wald. Doch seit Holz- und Bergbauunternehmen auf der Jagd nach Gewinn in ihr Reich eindringen, ist ihre uralte Tradition in Gefahr.

© Sascha Montag

Die Baka siedeln mittlerweile entlang der Landstraßen, die wie Schneisen in den grünen Dschungel Kameruns geschlagen wurden, um das wertvolle Tropenholz abzutransportieren. Das Land ist der Hauptumschlagplatz in Zentralafrika, jährlich werden Millionen Tonnen Holz verschifft.

Die Baka siedeln mittlerweile entlang der Landstraßen, die wie Schneisen in den grünen Dschungel Kameruns geschlagen wurden, um das wertvolle Tropenholz abzutransportieren. Das Land ist der Hauptumschlagplatz in Zentralafrika, jährlich werden Millionen Tonnen Holz verschifft.

© Sascha Montag

Mit spitzen Lanzetten wird Blut für den Test auf Frambösie entnommen.

Mit spitzen Lanzetten wird Blut für den Test auf Frambösie entnommen.

© Sascha Montag

Weil die ersten Tests auf Frambösie positiv ausfallen, bekommt das ganze Dorf ein Antibiotikum. So hofft man, die Infektionsketten zu durchbrechen.

Weil die ersten Tests auf Frambösie positiv ausfallen, bekommt das ganze Dorf ein Antibiotikum. So hofft man, die Infektionsketten zu durchbrechen.

© Sascha Montag

Für alle, die beim Jagen oder Fischen sind, werden ebenfalls Tabletten dagelassen – die Einnahme überwachen ausgebildete Gesundheitshelfer.

Für alle, die beim Jagen oder Fischen sind, werden ebenfalls Tabletten dagelassen – die Einnahme überwachen ausgebildete Gesundheitshelfer.

© Sascha Montag

Die indigene Bevölkerung Kameruns lebt ohne medizinische Versorgung. Deshalb leiden Menschen an schweren Infektionen, die eigentlich leicht zu heilen wären. Die Non-Profit-Organisation „Fairmed“ kämpft gegen die Armutskrankheiten an – und versucht damit auch, die hehren Versprechen der Vereinten Nationen einzulösen.

Sascha Montag (Bilder) Martin Theis (Text)

Jemand muss sich kümmern um die Kranken in den verborgenen Winkeln der Welt. Also stapfen René Stäheli von der Schweizer Non-Profit-Organisation „Fairmed“ und seine Leute mit festem Schuhwerk in den Dschungel im Osten Kameruns. Begleitet von einheimischen Ärzten und Gesundheitshelfern, folgt der 65-jährige einem kaum sichtbaren Pfad zwischen Baumstämmen und herabhängenden Lianen. „Ob die Menschen hier krank sind oder nicht, geht auch uns in Europa an“, sagt Stäheli, vorschriftsgemäß mit Maske über Mund und Nase. „Corona sollte uns gelehrt haben, dass wir Gesundheit global denken müssen.“

Katalog guter Vorsätze für eine bessere Welt

Laut tönt der Wald. Stäheli hört Zirpen und Zwitschern. Dann ein Trommeln aus der Ferne. Frauengesänge hallen unter dem hohen Blätterdach. Vielstimmiges Jodeln formt schräge Harmonien. Fast sind sie am Ziel. René Stäheli leitet die NGO zur Bekämpfung von Armutskrankheiten. Er ist hier, weil die Vereinten Nationen (UN) einen Jahrhundertbeschluss gefasst haben: Alle Menschen sollen einen Zugang zu medizinischer Versorgung bekommen. Über Programme der Weltgesundheitsorganisation (WHO) will die UN Epidemien beenden, Tropenkrankheiten ausrotten, die Kinder- und Müttersterblichkeit senken und den globalen Gesundheitsrisiken vorbeugen.
Dies ist Teil der Agenda 2030, eines monumentalen Katalogs guter Vorsätze für eine bessere Welt, von der Hunger­bekämpfung bis zum Klimaschutz. Das Versprechen: Leave no one behind. Niemand darf auf der Strecke bleiben.
Die komplexe Wirklichkeit hinter der einfachen Losung kennen sie bei „Fairmed“  (übrigens nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen deutschen Pharmafirma)nur zu gut. Der Dschungelpfad wird sie zu einem Camp der Baka führen, einem indigenen Pygmäenvolk, das traditionell in den Wäldern Zentralafrikas lebt. Die Gier nach Tropenholz zerstört ihren Lebensraum. So siedeln Baka auch an der Landstraße, einer Schneise aus roter Erde, die sich durch die grüne Tropenregion zieht. Ihre Camps sind nirgends registriert. Anderen afrikanischen Volksgruppen gelten sie als Menschen zweiter Klasse. Sie fallen als Erste durch die Maschen des maroden Gesundheitssystems.
Seit zwölf Jahren arbeitet „Fairmed“ mit Pygmäenvölkern in Zentralafrika. Sie haben indigene Frauen zu Hebammen ausgebildet, um die Müttersterblichkeit zu senken. Sie haben in Dörfern selbst verwaltete Gesundheitsfonds eingerichtet, die eine Krankenversicherung ersetzen.

Westliche Medizin statt Beschwörungen und Heilpflanzen

Die nächste große Mission ist soeben im Gange: „Fairmed“ leitet ein Programm, das in Kamerun und den angrenzenden Regionen des Kongo und der Zentralafrikanischen Republik eine folgenschwere bakterielle Infektionskrankheit ausrotten soll: die Frambösie. Sie wird zunächst als himbeerroter Ausschlag sichtbar. Unbehandelt fressen sich die Erreger durch das Fleisch, deformieren die Gelenke und hinterlassen am Ende Verstümmelungen, die Kriegsverletzungen gleichen. Die Frambösie ist seltener und – am Ende – weniger tödlich als Aids oder Malaria. Aber sie trifft fast ausschließlich die Ärmsten der Armen. So findet sie in der Entwicklungshilfe und den Budgets von Ministerien kaum Beachtung. „Frambösie wird vernach­lässigt, weil sie vernachlässigte Menschen befällt“, sagt Stäheli.
Die Baka sind kleinwüchsige Jäger und Sammler, die sich im Dschungel so gut zurechtfinden wie der Schweizer in seiner Heimatstadt Basel. Krankheiten begegnen sie mit Beschwörungen und den pflanzlichen Mitteln ihrer Ahnen. René Stäheli setzt auf konventionelle westliche Medizin – und auf Bill Gates. Der brachte Pharmariesen dazu, Jahr für Jahr containerweise Medikamente in die ärmeren Teile der Welt zu spenden.
„Fairmed“ hilft bei der Verteilung. Von den Vereinten Nationen und ihrer Agenda 2030 dürfte bei den Baka jedoch kaum jemand gehört haben. Kritiker sagen, zu viele Ziele hätten sich die UN gesetzt und für die Umsetzung viel zu wenig Geld bereitgestellt. Mag alles sein, sagt Stäheli. Für ihn zählt die Agenda zu den großen Errungenschaften unserer Geschichte. An guten Tagen glaubt er, dass die Menschheit noch zu retten ist.
Nacheinander werden im Camp die Kinder mit verdächtigem rotem Ausschlag auf Frambösie getestet. Das Geschrei ist groß, die Ärzte setzen eine winzige spitze Lanzette ein und müssen je einen Tropfen Blut aus den Daumenspitzen quetschen. Weil die ersten Tests positiv sind, bekommen gleich alle Camp­bewohner ein Antibiotikum verabreicht. So soll der Infektionszyklus durchbrochen werden.
Bisher hat „Fairmed“ im Rahmen des Ausrottungsprogramms rund 600.000 Menschen mit Azithromycin behandelt. Wie schwierig es ist, alle Menschen rechtzeitig zu behandeln, zeigt sich auch bei diesem Einsatz: Mehr als die Hälfte der Campbewohner ist gerade zum Jagen oder Fischen unterwegs.

Eine Krankheit auszurotten – fast unmöglich

„Fairmed“ lässt für jeden Abwesenden je eine Tablette da. Die Organisation hat in den Gemeinschaften tausende freiwillige Gesundheitsbeauftragte ausgebildet, die die Einnahme begleiten werden. Sie fungieren zugleich als wichtige Brücke zur Außenwelt und melden weitere Verdachtsfälle.
Die deutsche Entwicklungshilfe hat das Ausrottungsprogramm mit 1,5 Millionen Euro finanziert. Weil „Fairmed“ in der Schweiz als einzige Organisation weit und breit auf die sog. Vernachlässigten Tropenkrankheiten spezialisiert ist, hat die Koordinierungsstelle zentralafrikanischer Gesundheitsministerien OCEAC sie mit der Umsetzung beauftragt.
Eine Herkulesaufgabe: „Die einzige Krankheit, die bisher vollständig ausge­rottet werden konnte, sind die Pocken“, sagt René Stäheli. Schon oft hat sich die Weltgemeinschaft in falscher Sicherheit gewiegt, bei Lepra, Pest, Polio, schon vor Jahrzehnten auch bei der Frambösie. Ausrotten bedeutet: Eine Krankheit – auch wenn sie schon besiegt scheint – mit extremem Aufwand flächendeckend weiter zu überwachen und zu behandeln,  bis keine einzige Neuinfektion auftritt.  
In der Realität wenden sich Gesundheitsministerien mit knappen Budgets vorher lieber dem Kampf gegen andere, akut gefährlichere Erreger zu. Durch diese kurzfristige Kosten-Nutzen-Rechnung sind die Massenbehandlungen zunächst wirksam, doch am Ende wenig nachhaltig.
Stäheli plädiert für einen ganzheitlichen Ansatz. Dafür, dass die Ärzte bei ihren Behandlungsreisen alle Infektionen in den Blick nehmen. Und dass die kleinen Gesundheitszentren auf dem Land besser ausgestattet werden. Mit lediglich ein paar Dutzend Medikamenten auf Vorrat könnte man dort alle häufigen Krankheiten behandeln. Theoretisch gäbe es dafür sogar ausreichend Produktspenden der Pharmaindustrie. Weil nationale Gesundheitsministerien aber andere Prioritäten setzen, gibt es zu wenige Standorte – und selbst dort fehlt es oft am Nötigsten.

Wie gestrandet in einer fremden Welt

Um die Situation der Baka besser zu verstehen, will René Stäheli mit einer Gruppe in den Wald gehen. Er weiß, dass es nicht allein Bakterien sind, die die Gesundheit der Baka gefährden – sondern ihre Lebensumstände, ihre Armut. Deshalb reichen Antibiotika nicht, um die Krankheiten zu bekämpfen. Was die Menschen hier brauchen, lernt Stäheli bei Besuchen wie diesem.
Er fährt in das Baka-Dörfchen Mbalam, eine kleine Ansammlung von Lehmhütten, die auf keiner Karte verzeichnet ist. Er kommt nicht als Leiter einer medizinischen Hilfsorganisation, sondern als Gast. Die Blätterdächer sind rot vom Staub der großen Straße.
Der 35-jährige Hervé Sam eilt herbei und begrüßt Stäheli per Handschlag, gefolgt vom ganzen Rest seines Dorfes. Sam ist bei „Fairmed“ angestellt. Er besucht vor Behandlungsrunden andere Baka-Dörfer und Camps, um Termine anzukündigen, Fragen zu beantworten und Menschen zur Teilnahme zu motivieren.
Von ihren Dörfern aus können die Baka dem Regenwald beim Verschwinden zusehen: Stunde um Stunde donnern die Laster über die Straße, schwer beladen mit gigantischen Baumstämmen für den Export. Kamerun ist der Holzumschlagplatz Zentralafrikas, Millionen Kubikmeter werden von hier aus jährlich auch nach Europa und Asien verschifft.
Die Baka sind hier draußen wie Gestrandete in einer fremden Welt: Wilde Tiere als Nahrung gibt es nicht mehr, und für die Jagd im Wald gelten wegen kommerzieller Wilderer ohnehin strenge Auflagen. Das Leben kostet also Geld – Reis und Kochbananen, Schnaps und Tabak, der lange Schulweg der Kinder nach der Grundschulzeit. Das gilt auch für die medizinische Versorgung. Das nächste Gesundheitszentrum ist 25 Kilometer entfernt. Oft scheitert eine Behandlung schon an den Fahrtkosten. So überleben selbst zurückgedrängte Krankheiten an den Rändern der Gesellschaft.
Die Lebens­umstände der Menschen zu verbessern, wäre die beste Medizin. Im Fall der Pygmäenvölker ist das besonders schwer: Ihre Bildungschancen sind deutlich geringer als die der anderen Volksgruppen, in Teilen Zentralafrikas werden sie noch immer als Sklaven gehalten. Sich durch Landwirtschaft zu versorgen, haben die Baka nie gelernt. Für wenige Cent am Tag und ein paar Maniokwurzeln schuften sie stattdessen auf den kleinbäuerlichen Plantagen der Bantu. Für René Stäheli ist das schwer zu begreifen. Er hat Agrarökonomie studiert. In Zentralafrika vertrieb er Pflanzenschutzmittel für einen Schweizer Konzern, wickelte Millionengeschäfte ab,  kündigte aber, als er immer öfter mit der großen Ungleichheit im Land konfrontiert worden war.

Ermutigung zu Anbau und Selbstversorgung

Den Blick des Agrarökonomen aber hat er behalten: Immer wenn er nach Mbalam kommt, bringt er eine Handvoll Samen mit, wie Papaya oder Corosol, eine grüne Stachelfrucht mit weißem Fleisch. Auch hunderte einheimische Kakaopflanzen hat er besorgt. Er versucht, im Dorf eine Idee zu pflanzen – auch wenn einige hier lieber Zigaretten oder etwas Hochprozentiges hätten.
Die Bekämpfung sozialer Probleme sei eigentlich nicht seine Aufgabe, sagt René Stäheli. Mit „Fairmed“ soll er lediglich deren Symptome lindern. Doch es lässt ihm keine Ruhe. Die Frage, die über die Zukunft und die Gesundheit der Baka entscheidet ist: Wie kann der Übergang in die neue Welt gelingen?
Von dem mehrtägigen Dschungeltrip zurückgekehrt, führt Hervé Sam den Schweizer zum halbfertigen Haus seiner Familie. Es besteht aus unverputzten Steinen und einem Wellblechdach. Wann immer er Zeit und etwas Geld von seiner Festanstellung bei „Fairmed“ übrig hat, baut er daran. Auf dem Feld nebenan, unter Bananenstauden und Palmen, gedeiht die Hoffnung: Sam hat dort die Kakao-pflanzen in die Erde gesetzt. Die jungen Bäume reichen ihm schon bis zur Hüfte. In einigen Jahren werden die Bäume erste Früchte tragen, für die man auf den Märkten der Region gute Preise erzielen kann. Ein erster kleiner Erfolg auf dem Weg in die Selbstversorgung.