Ein Klecks Erde

Die Bootsanlegestelle vor dem „Orango Parque Hotel“, eine Öko-Lodge
© Orango Parque Hotel

Junge Frauen beim traditionellen Tanz im Dorf
© Dr. Georg Bayerle

Wandbild des Bijago-Archipels
© Dr. Georg Bayerle

Chamäleons leben ganz still im Verborgenen.
© Orango Parque Hotel

Humor und Herzlichkeit zeichnen die Bewohner aus.
© Dr. Georg Bayerle
Der Bijagos-Archipel vor der westafrikanischen Atlantikküste von Guinea-Bissau ist nicht groß, steckt aber voller Wunder.
Dr. Georg Bayerle (Text und Bilder)
Im gleißenden Licht verschwimmen die Konturen von Land und Meer. Einzelne Inseln scheinen wie eine Fata Morgana im Dunst zu schweben. Mangroven strecken ihre Wurzeln wie Spinnenbeine in den Schlick. Wir befinden uns auf einer zehn Meter langen Aluminumpiroge, einem den traditionellen westafrikanischen Langschiffen nachempfundenen Boot, auf der vierstündigen Überfahrt nach Orango, einer der äußersten der 88 Inseln des Bijagos-Archipels vor der Küste von Guinea-Bissau. Unser eigentliches Ziel liegt noch weiter draußen: nur noch ein Klecks, ein Fliegenschiss im Atlantik, aber ein weltweiter Hotspot für den Bestand der vom Aussterben bedrohten Grünen Meeresschildkröten.
Im Nirwana der natürlichen Vielfalt
Es dauert, um sich ein Bild dieser außerordentlichen, aus Prielen, Überflutungsmooren, Mangrovenwäldern und Wattlandschaften gebildeten Wildnis zu formen. Die Inseln, die auf zerfurchten vulkanischen Riffen aufsitzen, liegen im Spiel der Gezeitenströmungen. Auf der Karte schaut es aus, als wären sie ausgespuckt von den wie Blutadern ins Landesinnere führenden Urwaldflüssen. Selbst den portugiesischen Seefahrern und Kolonisatoren gelang es nie, einen richtigen Zugriff auf dieses Gebiet und seine heute rund 30.000 Bewohner zu bekommen.
Als unser Boot an einem menschenleeren Strand auf den Sand auffährt, fühlen wir uns wie am Ende der Welt. Orango, eine der größten Inseln, hatte sich einst ein portugiesisches Ehepaar ausgesucht, um ein kleines Naturhotel zu bauen. Mit Rundhütten im Stil der afrikanischen Bewohner, unter wulstigen Baobab-Bäumen, mitten im Busch. Als das Gebiet 1996 zum Nationalpark erklärt wurde, ging das Hotel an eine Schweizer und eine spanische Stiftung, die es nun als Öko-Lodge nach den Prinzipien des Biodiversitätsreservats betreiben. Heute empfängt uns die Direktorin Mariana Ferreira, eine vor Jahrzehnten nach Guinea-Bissau ausgewanderte Rumänin, die das aus neun Hütten bestehende „Hotel“ ausschließlich mit einheimischen Angestellten aus dem nahen Dorf betreibt.
Uns umfängt köstliche Ruhe, alles ist einfach, aber gepflegt, die Pfade, die von den Hütten zum Haupthaus führen, sind mit Schalen von Wattmuscheln bedeckt, die hier bei Ebbe gesammelt und gegessen werden. Nachts breiten sich einfach nur Stille und die Geräusche der Natur aus. Gekocht wird frisch, ausschließlich mit Produkten von hier: Fisch, Hühnchen, Gemüse, Salat. Belmiro Lopes, ein kräftiger, agiler Typ, ist Barkeeper, Kellner und Naturguide in einer Person. Quasi vom Sessel aus beobachten wir Eisvögel und Seeschwalben, die sich zur Jagd ins Wasser stürzen.
Belmiro ist es auch, der uns am nächsten Tag auf der Piroge hinausführt bis nach Poilao, dem letzten Tupfer Erde auf der Landkarte des Archipels. Gerade einmal einen halben Quadratkilometer ist die unbewohnte Insel groß, die man spielend in einer Stunde zu Fuß umrundet hat. Auf dieser Insel landen zwischen September und März rund 30.000 weibliche Meeresschildkröten und legen ihre Eier ab; es ist einer der bedeutendsten Plätze für dieses Naturschauspiel.
Das Naturwunder ereignet sich mitten in der Nacht, die wir zu einem Teil auf den harten Holzplanken des kleinen Camps verbracht haben. Die Weibchen nutzen die Flut in der Nacht, robben auf den Strand, graben in stundenlanger, mühevoller Arbeit mit gekonnten Schaufelbewegungen ihrer Flossen eine Nisthöhle in den Sand, wo sie rund 100 Eier ablegen. Dann schleppen sich die bis zu 200 Kilo schweren und anderthalb Meter langen gepanzerten Kolosse zurück ins Meer und schaffen das hoffentlich in drei bis vier Stunden, sonst hat die Ebbe das Wasser zu weit zurückgezogen, und sie verenden in der trockenen Hitze des Tages.
Lebenskreislauf voller Rätsel
Weil dieser Vorgang über Monate abläuft, tauchen auch jeden Tag frisch geschlüpfte Jungtiere aus den Nestern auf. Kaum haben sie das Licht der Welt erblickt, paddeln die handtellergroßen Babyschildkröten wie im Wettlauf über den Strand, um sich so schnell wie möglich in die Brandung zu stürzen und ins Meer abzutauchen. Schwarzweiße Palmengeier spähen von ihren Aussichtswarten auf hohen Baobab-Bäumen auf solche Momente und klauben die noch weichen, wehrlosen Reptilien im Dutzend aus dem Sand.
Vor der Küste schwimmen Haie und Baracudas, am Ende schaffen es eine oder zwei von hundert, die als ausgewachsene Tiere an diesen Ort zurückzukehren und selbst wieder für Nachwuchs sorgen. Jahrzehnte verbringen sie zuvor in der Tiefsee und an Riffen. Niemand kennt ihre Lebensweise genau, aber nach 20 bis 50 Jahren kehren sie zum ersten Mal und dann immer wieder dahin zurück, wo ihr eigenes Leben begann. Und wir, die Besucher, dürfen diesen Höhepunkt im Lebenszyklus der sanften Meeresriesen mit respektvollem Abstand und staunend beobachten.
Seit 120 Millionen Jahren schaffen es diese Boten aus der Dinosaurierzeit, sich trotz ihrer mühseligen und gefährlichen Fortpflanzungsweise erfolgreich auf der Erde zu behaupten. Die Gattung Mensch bringt es seit ihren ersten Ursprüngen in Afrika auf gerade einmal drei Millionen Jahre und ist dabei, das größte Artensterben in der Geschichte der Erde zu verantworten. Ein Saum von Plastikmüll am Strand zeugt selbst auf dem weltverlorenen Eiland vom Wirken des sogenannten Homo Sapiens. Mit ihrer enormen landschaftlichen Vielfalt und Naturbelassenheit ist die Gezeitenlandschaft der Bijagos, die auch zu den besonderen Winterquartieren der Zugvögel zählt, einer der großen Biodiversitäts-Hotspots der Erde.
Für Belmiro und die Einheimischen der Bijago-Kultur sind die Schildkröten „heilig“. So übersetzt sich die Idee des Nationalparks am schlüssigsten in ihre Lebenswelt, und sie haben gelernt, die Schildkröten genauso wie die einzigartigen Salzwasser-Flusspferde, die es auf einigen der Inseln gibt, zu schützen.
Das Eiland Poilao wie auch andere der unbewohnten Inseln stehen zudem als Orte des Fanado unter besonderem Schutz: Bei diesem traditionellen Initiationsritual verbringen junge Frauen und Männer, nach Geschlecht getrennt, Monate in kleinen Gruppen zur spirituellen Reinigung in der Wildnis, bevor sie dann ihr Erwachsenenleben in der Gemeinschaft beginnen.
Wie eine von der Welt vergessene Arche Noah
Nach unserer Rückkehr ins „Orango Parque Hotel“ bringt uns Belmiro an einem der Folgetage in sein nahegelegenes Dorf, wo aus den Gewinnen der Öko-Lodge ein Medizinstützpunkt, die Schule und ein Museum finanziert werden. Wer portugiesisch oder spanisch spricht, kann sich bei den Dorfbewohnern verständlich machen, die das portugiesisch-afrikanisch gemischte Kreolisch sprechen. Sie sind gastfreundlich und offen und erlauben auch Einblicke in die Baloba, das Haus des Irán, der Gottheit, die sich in einem Stein oder Holzstück manifestieren kann und für jedes Problem von der Krankheit bis zu Regen und Liebe wirkmächtig ist.
In ihrer animistischen Weltauffassung ist alles Existierende beseelt. Und beseelt sind wir, das kleine Grüppchen der deutschen Besucher, vom Zauber dieser ursprünglichen und bisher unbeschädigten Kultur und Natur mit einer Tierwelt, die es hier wie auf einer von der Welt vergessenen Arche Noah bis ins 21. Jahrhundert geschafft hat. So eröffnet dieser Klecks Erde im Atlantik eine Dimension, die weit über unsere engen Grenzen und das menschliche Zeitmaß hinausreicht.

Ein Salzwasser-Flusspferd im Sumpf
© Orango Parque Hotel

Streifzug durch die Savanne der Orango-Insel
© Dr. Georg Bayerle

Ein Exemplar der verschiedenen Eisvogelarten
© Orango Parque Hotel