Die Ruhe vor dem Wurm

Der Viktoriasee liegt in Ostafrika und ist Teil der Staaten Tansania, Uganda und Kenia. Er ist der drittgrößte See und der flächenmäßig zweitgrößte Süßwassersee der Welt.
© Sascha Montag

Auf Ijinga leben etwa 2500 Menschen in fünf Dörfern aus Lehm- und Steinhütten. Morgens fahren die Fischer mit bunt bemalten Booten hinaus auf den Viktoriasee.
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Die Ausbreitung von Bilharziose wird begünstigt durch schlechte Gesundheits- und Wasserversorgung.
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Wenn die Bilharziose auf der Insel Ijinga verschwinden soll, braucht es u.a. eine funktionierende Trinkwasser- und Sanitärversorgung, um die Lebensumstände der Menschen zu verbessern.
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Weltweit sind 200 Millionen Menschen mit dem Erreger der Bilharziose infiziert. Auf einer kleinen Insel im Viktoriasee kämpfen ein Arzt aus Tansania und ein Kollege aus Würzburg dagegen an. Ihr Modellprojekt lässt ahnen, wie so etwas funktionieren kann: Eine Krankheit auszurotten.
Sascha Montag (Bilder) Martin Theis (Text)
Der alte Fischer mit dem aufgeblähten Bauch kann sich an das Leben ohne Schmerzen kaum erinnern. Sein Neffe führt ihn am Arm in die medizinische Versorgungshütte von Ijinga, einer kleinen Insel im Viktoriasee, in Tansania. „Wir haben gehört, dass die beiden Ärzte heute da sind“, sagt der junge Mann und lacht: „Die, die unser ganzes Leben umkrempeln wollen.“ Dann winkt er ihnen zu: Andreas Müller, dem weißen Tropenmediziner aus Würzburg, von dem manche zuerst dachten, er wolle die Insel kaufen oder ihre Bewohner mit seiner Medizin vergiften. Und Humphrey Mazigo, dem Parasitologen aus der nahegelegenen Großstadt Mwanza, der Müller hilft, nicht daran zu verzweifeln, dass hier alles ein bisschen anders läuft.
Übertragung durch verseuchtes Süßwasser
Der Fischer legt sich auf die Pritsche. Mazigo kennt ihn gut, er hatte ihn bereits mehrmals behandelt, bevor der Alte sich lieber wieder den Medizinmännern anvertraute und sich sein Zustand verschlechterte. Er leidet an den Spätfolgen von Bilharziose, einer Wurmkrankheit, die durch verseuchtes Süßwasser übertragen wird. Die meisten der rund 40 Millionen Menschen in den Seeregionen von Tansania, Uganda und Kenia sind damit infiziert. Unbehandelt kann die Krankheit zum Tod führen.
Auf Ijinga – etwa vier Kilometer lang und einen Kilometer breit – wollen Müller und Mazigo sie jetzt ausrotten. „Wenn wir es hier nicht schaffen, wie soll es dann je irgendwo anders klappen?“, sagt der Würzburger. Ihr Modellprojekt könnte zu einem Vorbild für die Krankheitsbekämpfung werden. „Medmissio – Institut für Gesundheit weltweit“, vormals das Missionsärztliche Institut in Würzburg, trägt das Projekt, zum 50. Jubiläum der Städtepartnerschaft zwischen Mwanza und Würzburg konnten die Ärzte außerdem Christian Schuchardt, den Oberbürgermeister der deutschen Stadt, als Schirmherren gewinnen.
Weltweit sind über 200 Millionen Menschen mit Bilharziose infiziert, die meisten davon in Afrika. Betroffen sind vor allem die Ärmsten der Armen: Die Ausbreitung wird begünstigt durch eine schlechte Gesundheits- und Wasserversorgung, Mangelernährung sowie politische Ignoranz. Trotz ihrer hohen Verbreitung gehört sie zu den sog. „Neglected Tropical Diseases“ (NTD), den vernachlässigten Tropenkrankheiten. Im Gegensatz zu den „großen Drei“ – Malaria, HIV und Tuberkulose – fristen die NTD in Budgets für medizinische Entwicklungshilfe ein Schattendasein. Dass in westlichen Industrie-nationen bis in die Ministerien hinein kaum jemand von den NTD gehört hat, erschwert ihre Bekämpfung. Was die beiden Ärzte auf Ijinga vorhaben, ist ein Versuch gegen jede Wahrscheinlichkeit.
Mit der Sonde seines tragbaren Ultraschallgeräts fährt Müller über den prallen Bauch des Patienten. Er sieht zerstörtes und vernarbtes Lebergewebe. Das behindert den Blutfluss durch die dicke Pfortader, in der das Blut aus den Bauchorganen zum Herzen fließt. Es sucht sich einen anderen Weg, durch die Adern in der Speiseröhre. Dort steigt der Druck, es drohen Blutungen. „In solchen Fällen läuft zunächst der Magen voll und dann erbricht der Patient bis zu anderthalb Liter Blut“, sagt Müller. Das Krankenhaus in Mwanza, in das der Mann dann eingeliefert werden müsste, liegt vier Stunden entfernt. „Für Menschen in abgelegenen Regionen ist das oft das Ende.“
Deshalb müssen Betroffene dringend vorsorglich behandelt werden, mit dem Medikament „Praziquantel“ oder – im fortgeschrittenen Stadium – mit einer speziellen Prozedur im Krankenhaus, bei der blutungsgefährdete Stellen in der Speiseröhre von innen mit kleinen Gummiringen verschlossen werden. Doch die meisten hätten nicht einmal das Geld für die Fahrt dorthin.
Ausrottung als Lebensaufgabe
Humphrey Mazigo kennt das Drama um die Bilharziose seit seiner Kindheit. Er verbrachte die Ferien oft bei seinen Großeltern auf Ukarewe, einer großen Insel im Viktoriasee. „Dort war es genauso wie hier auf Ijinga“, sagt er. „Die Kinder gingen abends alle im See baden. Weil meine Eltern Apotheker waren, wussten sie, dass das Wasser sie krank macht und verboten mir mitzugehen.“ Er habe deshalb nie schwimmen gelernt. Später schrieb er seine Doktorarbeit über Bilharziose in der Seeregion und machte ihre Ausrottung zu seiner Aufgabe.
In Andreas Müller, der lange in einer Klinik am Kilimanjaro gearbeitet und dort Fachärzte ausgebildet hatte, fand er seinen Verbündeten. Bei den regelmäßigen Behandlungsrunden, bei denen sie auf der Insel das Medikament ausgeben, lässt er gekochten Reis und Getränke verteilen. Für viele Patienten ein zusätzlicher Grund, die Pille zu nehmen – zum anderen steigert es deren Verträglichkeit.
Weltweit haben ca. 1,5 Milliarden Menschen mindestens eine vernachläs-sigte Tropenkrankheit. Die Vereinten Nationen haben 2015 beschlossen, das zu ändern: In ihrer „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ setzten sie sich zum Ziel, die Zahl der Betroffenen innerhalb der nächsten 15 Jahre um 90 Prozent zu senken. In Zeiten von Corona ist die Bekämpfung anderer Krankheiten aber stark beeinträchtigt. Medizinische Behandlungsrunden wie auf Ijinga sind nicht mit den Abstandsregeln zu vereinbaren, zudem wird das medizinische Personal in den Krankenhäusern gebraucht. Die WHO wollte 2020 eigentlich ihren Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung der vernachlässigten Tropenkrankheiten aktualisieren – auch das liegt wegen Corona auf Eis.
„Die Gefahr durch diese Krankheiten wird häufig unterschätzt, weil sie nicht als tödlich gelten“, erklärt Professor Achim Hörauf, Parasitologe an der Uni Bonn und Sprecher des Deutschen Netzwerks gegen Vernachlässigte Tropenkrankheiten (DNTDs). „Dennoch sterben sehr viele Menschen an den Folgeerkrankungen, die eine unbehandelte Infektion nach sich zieht.“
Ein längerer Stopp der Behandlungsrunden bedeute automatisch mehr Infizierte und womöglich Hunderttausende Tote. Außerdem führten nicht tödliche Verläufe sehr häufig zu Behinderungen und bleibenden Schäden. „Die afrikanischen Länder sind bisher besser durch die Coronakrise gekommen als erwartet. Hier müsste man abwägen, ob die strikten Vorsichtsmaßnahmen der WHO nicht mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen“, sagt Hörauf.
Um den Kampf zu gewinnen, braucht es jedoch mehr als nur Aufmerksamkeit und die regelmäßige Tablettengabe. Eine Stärkung der Gesundheitssysteme ist ebenso wichtig wie eine funktionierende Trinkwasser- und Sanitärversorgung sowie Investitionen in Bildung und Aufklärung. Wenn die Bilharziose auf der Insel Ijinga verschwinden soll, müssen die beiden Ärzte es zunächst schaffen, die Lebensumstände der Menschen zu verbessern. Das fängt bei der Versorgung mit Seife an. „Sagen sie mal dem Entwicklungsministerium, sie wollen Geld für Seife haben, da packen die sich an den Kopf“, sagt Andreas Müller.

Mit Spendengeldern aus Deutschland haben die beiden Ärzte auf Ijinga acht Brunnen gebaut. Für die Trockenzeit, in der die Brunnen versiegen, haben sie einige 5000-Liter-Tanks auf dem Schulgelände aufstellen lassen, die das Regenwasser von den Dächern auffangen. Nächster Plan: ein solarbetriebenes Pumpsystem, das Seewasser abpumpt und zunächst durch eine Filteranlage, dann durch dicke Leitungen in einen 120.000-Liter-Wassertank auf einen hohen Felsen der Insel befördert. Das gereinigte Wasser könne von dort aus wiederum in jedes der fünf Dörfer geleitet werden.
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Tiefe Verbundenheit mit dem See
Auf Ijinga leben etwa 2500 Menschen in fünf Dörfern aus Lehm- und Steinhütten, zwischen denen sich Trampelpfade schlängeln. Morgens fahren die Fischer mit bunt bemalten Booten hinaus auf den Viktoriasee. Die Inselbewohner haben vier, fünf Gotteshäuser verschiedener Konfessionen, da gehen die Zählungen auseinander. Gleichzeitig gibt es nur die eine Hütte zur medizinischen Versorgung, wo die Leute Verbandszeug bekommen und mit etwas Glück ein paar Paracetamol gegen Fieber und Schmerzen.
Auf Ijinga gibt es keinen Strom. Bevor Müller und Mazigo kamen, war der See die einzige Wasserquelle zum Trinken, Gießen, Waschen und Kochen. Die Fischer stehen abends bis zur Hüfte im Seewasser, wenn sie unter lauten Gesängen die Netze einholen. Und die Kinder gehen täglich baden. Die Menschen sind tief verbunden mit dem See, der ihnen das Leben hier erst ermöglichte. Genau darin liegt das Problem.
Die Bilharziose-Erreger sind ein bis zwei Zentimeter lange Saugwürmer, deren Eier durch menschlichen Kot in den Viktoriasee gelangen. Zwar wurden die Inselbewohner im Zuge der Cholera-epidemie um 2015 zum Bau von Toiletten verpflichtet – doch wer eine Toilette hat, braucht auch Klopapier oder einen Wasseranschluss. Wer das nicht hat, dem wird es schnell zu kompliziert. So greifen viele auf altbewährte Lösungen am Strand zurück. „Wir haben hier natürlich keine Möglichkeit der Kontrolle und müssen die Menschen nach und nach vom Sinn unserer Arbeit überzeugen“, sagt Müller. Die Krankheitsbekämpfung erfordert also ziemlich viel demokratische Basisarbeit. Das aber dauert.
Also gelangen die Eier der Saugwürmer weiter ins Süßwasser, bis daraus schließlich winzig kleine Wimpernlarven schlüpfen. Diese dringen wiederum in Wasserschnecken ein und dort werden sie zu sogenannten Sporozysten. In diesen kleinen, sackförmigen Gebilden aus Muskel- und Keimzellen entwickeln sich die infektiösen Gabelschwanzlarven, die dann wiederum von den Schnecken ausgeschieden werden. Die Larven suchen im Wasser aktiv den Menschen auf und dringen innerhalb einer Viertelstunde in dessen Haut ein. Ihre Reise durch den Körper bis zum System der Pfortader beginnt. Dort wachsen die Larven innerhalb von vier Wochen zu männlichen und weiblichen Würmern, die sich paaren. In wieder vier Wochen produzieren sie Eier, die der Mensch über den Darm ausscheidet. Dann beginnt der Kreislauf von vorn.
Infektionskreislauf unterbrechen
Die Behandlung mit „Praziquantel“ unterbricht den ewigen Infektionskreislauf: Die Tabletten kosten 20 Cent pro Stück und werden containerweise von der Pharmaindustrie gespendet. Ein Problem sind die Kosten für die Logistik der Verteilung in entlegenen Gebieten. Das nationale Programm Tansanias zur Bekämpfung der Bilharziose sieht gerade mal eine Behandlung pro Jahr in Risikogebieten vor und das ausschließlich für Schulkinder. Doch die Würmer interessieren sich nicht für das Alter ihres Wirts. Auf Ijinga behandeln Müller und Mazigo deshalb alle Menschen, drei Mal pro Jahr. Die Krankheit ist dann vorerst geheilt und die Menschen sind nicht mehr ansteckend – infizieren können sie sich trotzdem.
„Wenn wir den Leuten sagen, sie sollen das Seewasser nicht mehr benutzen, müssen wir ihnen auch eine Alternative bieten“, sagt Andreas Müller. Das Bugando-Krankenhaus in Mwanza arbeitet seit über 20 Jahren mit der Tropenklinik in Würzburg zusammen, auch in der Ausbildung von medizinischem Personal. Mit Spendengeldern aus Deutschland haben die beiden Ärzte auf Ijinga acht Brunnen gebaut.
Für die Trockenzeit, in der die Brunnen versiegen, hat er einige 5000-Liter-Tanks auf dem Schulgelände aufstellen lassen, die das Regenwasser von den Dächern auffangen. Demnächst soll ein solarbetriebenes Pumpsystem am Strand errichtet werden, das Seewasser abpumpt und zunächst durch eine Filteranlage, dann durch dicke Leitungen in einen 120.000-Liter Wassertank auf einen hohen Felsen der Insel befördert. Das gereinigte Wasser könne von dort aus wiederum in jedes der fünf Dörfer geleitet werden. Die Stadt Würzburg hat dafür Fördermittel beantragt und für die Bauarbeiten 162.000 Euro vom deutschen Entwicklungsministerium erhalten, aus einem Topf zur Förderung von Solarprojekten.
Weil sich der ganzheitliche Ansatz der Weltgesundheitsorganisation zur Bekämpfung vernachlässigter Tropenkrankheiten auf Ijinga besonders gut studieren lässt, war im vergangenen Jahr sogar eine Delegation aus dem Deutschen Bundestag auf der Insel. Die Mitglieder des „Parlamentarischen Beirates zur Bekämpfung vernachlässigter Tropenkrankheiten“ versuchen, in den Ministerien mehr Aufmerksamkeit für die komplexe Problemlage zu schaffen. Immerhin fördert das Deutsche Gesundheitsministerium nun seit 2019 ein internationales Projekt zur Ausrottung der Krankheiten in der zentralafrikanischen CEMAC-Region mit insgesamt 1,5 Millionen Euro.
„Die fehlende Bekanntheit der Krankheiten ist für uns aber nach wie vor das größte Hindernis zur Verbesserung der Situation“, sagt der Sprecher des Parlamentarischen Beirates, Georg Kippels. HIV, Malaria und Tuberkulose erhielten eben auch deshalb mehr Aufmerksamkeit, weil sich auch Westler davor fürchteten. „Mein Wunschtraum wäre, dass sich die Organisationen zur Bekämpfung der ‚großen Drei‘, die bereits vor Ort sind und ohnehin den Kontakt zur Bevölkerung haben, auch der vernachlässigten Tropenkrankheiten mit annehmen.“ Doch der Weg dahin scheint noch weit.
Auf Ijinga hat sich indes schon viel verändert. „Hier war wirklich jeder krank“, sagt Julius Ncheyeki, Rektor der Schule. Er hat bereits viel Überzeugungsarbeit geleistet: Nein, der Weiße will euch nicht vergiften. Nein, sie werden hier bestimmt kein Hotel bauen. Es hat wohl etwas bewirkt. „Die Kinder hatten ständig Fieber und Bauchweh. Im Unterricht wirkten sie abwesend und hatten große Schwierigkeiten, sich irgendwas zu merken“. Viele seien damals gar nicht zur Schule gekommen. „Heute aber geht es ihnen gut.“
Datenerhebung für Folgeprojekte
Seit die Ärzte zum ersten Mal auf die Insel kamen, fiel die Zahl der Bilharziose-Infizierten auf Ijinga immerhin von 95 Prozent auf 10 Prozent. „Wir hoffen, dass wir in zehn Jahren die Geschichte einer Ausrottung erzählen können“, sagt Mazigo. Mit den Daten, die sie hier erheben, wollen die beiden Ärzte zeigen: Die Bekämpfung der Bilharziose ist erschwinglich und im großen Maßstab möglich. Für einen Folgeversuch auf der Insel Ukarewe konnten sie bereits 2,5 Millionen Euro von der Else Kröner-Fresenius-Stiftung einwerben. Es ist die Insel, auf der Humphrey Mazigo als Kind die Ferien verbrachte und vor der Bilharziose bewahrt wurde. Sie ist 47 Kilometer lang, 21 Kilometer breit, und dort leben mehr als 300.000 Menschen.
Die große Herausforderung wird sein, die Situation in der gesamten tansanischen Seeregion zu verbessern und schließlich auch mit den anderen Anrainerstaaten des Viktoriasees zusammenzuarbeiten. Das zumindest haben die Vernachlässigten Tropenkrankheiten mit Corona gemeinsam: Alle müssen ihr Verhalten ändern, damit die Seuche kontrolliert werden kann.

Typisches Krankheitszeichen der Bilharziose: ein Blähbauch
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Hygieneartikel wie z.B. Seife sind hier ein kostbares Gut und schwer zu bekommen.
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Andreas Müller (li.) prüft das Wasser aus einem der acht Brunnen.
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