Wahre Größe

Das Engadin bedeutet Winterspaß auf höchstem Niveau.
© Viktoria Stein

Zuoz gilt wegen seines gut erhaltenen historischen Ortskerns mit den herrlichen Patrizierhäusern als schönstes Engadiner Dorf.
© Viktoria Stein

Das Engadin verwöhnt Skifahrer mit traumhaften Pisten.
© Nicola Förg

Die hauseigene Konditorei vom Hotel „Klarer“ in Zuoz bietet neben Klassikern wie Engadiner Nusstorte oder Birnbrot täglich frische Gipfeli und Spezialbrote an.
© Nicola Förg
Ganz ohne Champagner in der Champagnerluft. Das Engadin ist nicht nur Society(t)raum. Vielmehr leben hier Menschen mit Respekt – vor der Vergangenheit und der Zukunft. Eine Winterreise
Nicola Förg (Text und Bilder)
Nadja Menig ist eigentlich fast jeden Tag im „Tam“. Sie gehört zum Stammtisch, und sie „luegt guet zur Mariuccia“. Diese Dame ist betagt, sehr betagt sogar, und eigentlich heißt das „Tam“ Pension „Valtellina“. So richtig offen ist es nicht mehr, aber es gibt diese Stammgäste, die auf „ihre“ Mariuccia schauen, die da mal ein Bier zapft oder einen Kaffee einschenkt – Kaffee, der ehrlicherweise scheußlich ist. Aber darum geht es nicht: Es geht um Menschlichkeit, um Achtung für eine Engadin-Ikone, die immer schon jenseits der Glitzerwelt gelebt und gearbeitet hat.
Auch wenn Glamour-Veranstaltungen, Nobel-Boutiquen und Society-Hotels das Bild des Engadin nach außen prägen, nach innen leben da Menschen, die nur eins unterscheidet. Sie leben auf einer Beletage der Alpen, wo der Himmel näher, die Luft klarer, die Berge gewaltiger sind. Inmitten eines alpinen Superlativs kann man nur zweierlei werden: hochfliegend oder demütig.
Die Hochfliegenden fallen schnell auf, die Demütigen nur, wenn man genau hinsehen will – hinter eine bescheidene Fassade, wie die des „Tam“. Hinter Nadja, die gänzlich ungestylt zu ihrem Arbeitsplatz, dem „Gästehaus Convict“, in Zuoz fährt. Echte Menschen verortet sie auch im mondänen St. Moritz. Ihr Tipp lautet: Via Maistra 16.
Tempel der Achtsamkeit
Und das ist was? Ein Tempel, kühl, klar, aus Marmor und Glas. Ein Tempel für ein Produkt, das Ergebnis würdiger Tierhaltung und uralten Handwerks ist. Ludwig Hatecke nennt das „alpines Fleischhandwerk“: Salsiz, Bünderfleisch, Hirschtrockenfleisch, im Felsenkeller in Scuol gereift. Teils geformt wie eine Toblerone. Was immer man im Kopf hat von Metzgereien, wo sich in langen Raumschläuchen die Wurstberge hinter Plexiglastheken türmen, stimmt hier nicht!
Hatecke gibt seinen formidablen „Exponaten“ Platz, er betreibt ein Bistro dazu, wo weiße Stoffservietten und Silberbesteck sein Credo unterstreichen. „Wir müssen das Fleisch mit Respekt behandeln, das Tier auch, das es uns schenkt.“ Seine Zulieferer sind Biobauern, deren Tiere fressen alpines Gras, das ergibt die wichtigen ungesättigten Fettsäuren. Gutes Fleisch braucht keine Zusätze, nur etwas Nitrat und Fenchelpulver. Es verliert in der Trocknung 50 Prozent an Gewicht, aber hat jene Energie, die Bergvölker seit Jahrhunderten im Winter gebraucht haben. Sein Felsenkeller in Scuol liegt in jenem Haus, das einst sein Ururgroßvater, ein Bootsbauer aus Stade (!), erworben hatte.
Schon 1984 baute der St. Galler Architekt Beat Consoni die Metzgerei in Scuol um, später zwei weitere Filialen im Engadin und 2017 auch in Zürich. Tempel der Achtsamkeit.
Um die unprätentiöse Nadja zu besuchen, heißt der Halt engadinabwärts Zuoz, eines der Dörfer, dessen Dorfkern umfängt und die Schritte entschleunigt. Die schweren Engadiner Palazzi stammen aus dem 16. Jahrhundert, teils sind sie älter und können stoisch auf die jungen Leute blicken. Mit dem Lyceum Alpin hat Zuoz eine Internatsschule, in der man Respekt vor dem Leben und den Menschen genauso lernt wie Ski fahren, drum chauffiert ein junger Mann auch grad eine Schülerin mit dem Traktor zum Bahnhof – Zuoz eint problemlos die Welten, weil diese Bühne auf starken steinernen Mauern ruht.
Auf duftenden auch. Überm Inn hat Daniel Badilatti sein Refugium. Und auch wenn er ein Weltbürger mit untadeligen Manieren ist, spuckt er jetzt ganz stillos, verwirbelt die Flüssigkeit in der Mundhöhle und spuckt erneut. Herr Badilatti testet Kaffee, riecht, süffelt, spuckt. Solche Tastings sind harte Arbeit, denn bevor eine ganze Schiffsladung den Weg von Indonesien oder Südamerika nach Europa findet, müssen Proben auf Farbe und Geschmack getestet sein.
Kaffee mit Ansage
Herr Badilatti gibt in dem Fall grünes Licht, die Säcke können kommen, um dann in Zuoz geröstet zu werden, in der höchstgelegenen Rösterei Europas auf 1650 Metern. Großvater Giacomo
Badilatti arbeitete in Rom im „Caffè Bondolfi“ und verfiel dem Kaffee. Er kehrte wohlhabend zurück und eröffnete 1912 in Zuoz einen Kolonialwarenladen mit Kaffee! Sein Sohn baute 1948 die erste Rösterei, 1976 übernahm Daniel Badilatti, der Chef macht die Rezepturen, Röstmeister Arno Striemer zaubert an den Maschinen.
Bis zu 1000 Nuancen kann er erriechen, wenn die Bohne aufbricht. Er röstet 15 bis 20 Minuten bei 180 bis 200 Grad, Zeit und Temperatur sind alles entscheidend. Große Industrieröster, gerade auch im Kaffeeland Italien, gönnen dem Kaffee drei Minuten bei 900 Grad. „Das baut keine Säuren ab, das geht auf den Magen“, sagt der Meister. Und der Chef schickt hinterher: „Die Italiener sind Weltmeister im Einstellen der Kaffeemaschinen, das kompensiert auch mittelmäßige Röstungen.“
Es geht ihm um Verantwortung für ein Produkt, aber auch für seine Erzeuger. Weltweit leben doch immerhin 20 Millionen Menschen vom Kaffee – der Hauptverdienst liegt selten bei den Produzenten. Badilatti beschäftigt eigene Kleinbauern und hat in Nicaragua „La Bastilla“. Das 311 Hektar große Gebiet liefert besten Kaffee, ist aber auch ein soziales Projekt. Kinder und Jugendliche genießen hier auf dem Niveau von Grundschule bis Technikum eine Ausbildung, die sich ihre – oft alleinerziehenden – Mütter sonst nie leisten könnten. Faire Arbeitsbedingungen, kostenloser Wohnraum – es geht um Respekt.
Das hat sich auch Domenic Godly auf die Fahne geschrieben. Er ist Ranger im Nationalpark in Zernez. „Die Tiere zählen. Wir Menschen sind doch wie eine Wolke am Himmel. Wir ziehen auf, laufen über unsere Bahn und verschwinden wieder. Gerade mal ein Atemzug lang.“ Die Natur des Parks hat ihn gelehrt, dass man mit hektischer Aktivität nichts erreicht, die Natur in anderen Zeitdimensionen denkt. Sein Spektiv hat etwas entdeckt. Einen Steinbock.

Zum 110-jährigen Jubiläum im letzten Jahr verpasste sich das Hotel „Walther“ in Pontresina einen frischen Look, auch im „Grand Restaurant“ im Jugendstilsaal – die Lüster sind geblieben.
© Hotel Walther

Das Engadin ist Steinbock-Revier.
© Fotolia – marcobarone

Fadri Caprez, Wirt des Bergrestaurants „Prümaran Prui“
© Nocola Förg
Engadiner Revier
Das sind schwere Tiere, bis 100 Kilo, sie gehen ungern über Schnee, weil sie da einsinken“, erklärt er, und dass Steinböcke Hornträger sind. „Ein Geweih wird abgeworfen, ein Horn wächst lebenslang“. Domenic hat den Trick raus: Kamera oder Handykamera vors Spektiv gelegt, ergibt sagenhafte Steinbockbilder. Nicht ganz scharf, aber berührend schön …
Darüber kreist ein Bartgeier. 21 der gewaltigen aasfressenden Vögel, die schon ausgerottet waren, wurden 1991 ausgesetzt. Inzwischen kann der Park mit Stolz von seinen Wildbruten berichten. Der Vogel schraubt sich in den Himmel, ein majestätisches Tier. Domenic hat zuhause eine Vogelaufzuchtstation initiiert. Er und seine Frau päppeln Vögel auf und freuen sich, wenn so ein Tier wieder abhebt in die Freiheit.
Apropos Steinbock und Lämmergeier. Treffen mit Nadja zum Fondue auf einer ihrer Lieblingshütten: bei Fadri Caprez, hoch über Ftan. Da heißen die Kinderteller nicht „Pumuckl-Schnitzel“, sondern nach den „Big Five“ Graubündens: Gams, Hirsch, Steinbock, Bartgeier, Reh. Mit dem Bau eines Sessellifts 1970 bekam Opa Caprez die Erlaubnis, seine Maiensäss auszubauen. Damals wurde anfangs der Wintersaison ein Ochs geschlachtet, der grad so bis zum Saisonende reichte. Die Gastfreundschaft zu bewahren, blieb das große Anliegen der Familie.
Mit 24 hatte Fadri die Hütte übernommen, heute ist er 43 und hat ein eigenes kleines Universum der Achtsamkeit geschaffen. Das Rindfleisch kommt von den Kühen des Bruders, der Tee aus einer Biogärtnerei in Ftan. Die krause Minze pflanzt er selber an, weil das die Oma schon gemacht hat. Auf der Terrasse gibt es 250 Plätze mit Selbstbedienung, drinnen wird serviert, von halb elf bis 17 Uhr gehen schon mal 600 Essen raus. Die Angestellten halten dem Chef auch an Stress-tagen die Treue, weil er gut zahlt, und weil er Sätze sagt wie: „Ich würd‘ mich schämen, wenn ich 6 Franken für einen Cappuccino nehmen würde.“