Gekommen, um zu bleiben

Sturm am Mittler Wissberg, im Hintergrund: der Piz Platta
© Günter Kast

Kein Grün stört das makellose Weiß.
© Günter Kast
Juf im hintersten Averstal in Graubünden ist die höchstgelegene, ganzjährig bewohnte Siedlung der Alpen. Wer hier auf Skitour geht, trifft Menschen mit Ecken und Kanten, die vorleben, wie ein nachhaltiger Wintertourismus funktionieren kann.
Günter Kast (Text und Bilder)
2126 Meter über dem Meer! Höchstes Dorf der Alpen! Highlife! Das ist doch was! Das lässt sich doch vermarkten! Denkt man. Wollen die hier aber gar nicht. Die wollen vor allem ihre Ruhe haben. Deshalb wohnen sie ja hier und nicht woanders. Kurt Patzen, der Gemeindepräsident von Avers, hat auf die Frage, wie es sich am Ende der Welt lebe, einmal eine ziemlich elegante Antwort gegeben: Man müsse sich am Wendehammer für den Postbus in Juf nur umdrehen – dann sei das der Anfang der Welt.
An diesem Wendehammer stehen wir jetzt und ziehen die Felle auf. Zum Piz Piot wollen wir, gut 3000 Meter hoch. Also, keine große Sache, wenn man schon in der Beletage startet. Die Berge hier sehen aus wie mit frischer Sahne übergossen. Kein Grün stört das makellose Weiß. Baumfreie Zone. Weite, offene Hänge, wie gemacht für Skitouren. Vor allem dann, wenn es frisch geschneit hat. So wie jetzt. Unser Bergführer Tobi Bach von der Schweizer Bergschule „Berg+Tal“ kommt beim Spuren im knietiefen Pulver ganz schön ins Schwitzen.
Tobi ist Kölner, fährt aber schon seit einem Vierteljahrhundert mit seiner Familie regelmäßig ins Averstal und kennt jeden Skitourenberg. Am Ostersonntag ist er jedoch mit Pfarrer Andi zum Frühschoppen verabredet. Und zwar immer. Da kann der Powder noch so stieben, an diesem Tag bleiben die Latten im Keller. Statt Kölsch trinkt Tobi dann eine „Stange“ Bier vom Fass, und mit seiner rheinischen Frohnatur haben sich die manchmal etwas muffigen Bergler längst arrangiert.
Ganz allein im unverspurten Schnee
Nach drei Stunden stehen wir am Gipfelkamm des Piz Piot, blicken nach Süden ins Bergell, zum Monte Disgrazia und zum Piz Badile mit seiner berühmten Kante. Das Schönste aber: Wir sind vollkommen allein hier, niemand macht uns den unverspurten Schnee streitig. Nicht einmal die zotteligen Galloway-Rinder, denn die bleiben im Winter im Stall, an dessen Wand noch Ziegel aus getrocknetem Schafmist lagern, wie sie früher zum Heizen gebraucht wurden.
Nach der Abfahrt kehren wir in der „Pension Edelweiß“ in Juf ein, der einzigen Herberge des 20-Seelen-Nestes. Nicole und ihr aus Portugal stammender Mann haben das Hotel und die Ferienwohnungen von ihren Eltern übernommen. Die Junior-Chefin hat in guten Hotels in ganz Europa gearbeitet, die Welt erkundet. Und ist am Ende doch zurückgekehrt ins Tal. Leicht fiel die Entscheidung nicht. Natürlich, Skitouren boomen, auch im Winter kommen jetzt regelmäßig Gäste, es hat sich ein sanfter, nachhaltiger Tourismus entwickelt. Aber mickrige 20 Einwohner in Juf, 170 im ganzen Tal? Kein Arzt, keine Apotheke, kein Supermarkt, kein Kino, lediglich ein Krämerladen in Cresta. Der letzte Postbus fährt kurz vor 20 Uhr, und der Fahrer hält schon mal für einen Fotostopp an, wenn er am Hang gegenüber Steinböcke entdeckt. Schön für die Touristen, aber blöd, wenn man kein Auto hat und mit Freunden verabredet ist.
Anderntags geht’s auf den Piz Surparé, doch für die Abfahrt wählen wir diesmal die schattige und damit pulvrige „Backside“ – 1300 Höhenmeter Spaß pur, bis wir in Bivio an der Straße zum Julierpass herauskommen. Von hier aus wollen wir mit Liftunterstützung nach Juf zurückkehren. Bivio ist nun wahrlich nicht das Mallorca der Alpen, aber dennoch ist hier deutlich mehr los als im Averstal.

Bergführer Tobi Bach von der Alpinschule „Berg + Tal“ bei der Abfahrt.
© Günter Kast

Bei der Skitour geht’s beim Spuren durch tiefen Schnee.
© Berg + Tal

Wegweiser auf der Route zum Mittler Wissberg
© Günter Kast
Mut zur Einsamkeit
Uns wird mal wieder bewusst, wie einsam wir dort drüben wohnen. 20 Einwohner! Was viele nicht wissen: Das war nicht immer so. Um 1900 gab es zwei große Hotels in Cresta, Deutsche und vor allem Briten kamen zur „Sommer-frische“ und blieben oft fünf Wochen am Stück. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es bergab, bis 1968 Investoren große Pläne für den Winter auspackten und am Tscheischhorn einen ersten Lift bauten. Doch der Gemeinderat war gegen den großen Wurf. Nur ein weiterer kurzer Bügellift kam hinzu. So ist es bis heute geblieben. In Zeiten des Klimawandels muss das nicht schlecht sein, obwohl die Einheimischen hier die letzten sind, die die Erderwärmung zu spüren bekommen werden. Unten im Tal an der Via-Mala-Schlucht sagen sie spöttisch, in Juf herrsche neun Monate Winter, und drei Monate sei es kalt.
Willi Schmidt lacht, wenn er solche Sätze hört. Der Hesse ist ein Altlinker, lebte in Berlin, in Zürich, als Alphirte in den Schweizer Bergen. An den Wochen-enden fuhr er ins Averstal – der Skitouren wegen, der Ruhe wegen. Als 2011 das Angebot kam, die Leitung des Genossen-schaftshotels „Bergalga“ zu übernehmen, wenige Kilometer unterhalb von Juf, sagte er zu: „Machen wir noch mal was Neues.“ Bereut hat Willi seine Entscheidung nicht. Obwohl selbst ihm manchmal die Kälte und die Dunkelheit aufs Gemüt schlagen. Im Mai, also noch lange vor der Schneeschmelze, flüchtet er schon mal über den San Bernardino ins nahe Tessin: „Da kannst Du durch grüne Wälder wandern, wenn hier oben noch tiefster Winter ist.“
Das heißt allerdings nicht, dass das Averstal ein ausgesprochenes Schneeloch ist. Weder Nordstau-Lagen noch Genua-Tiefs dringen so richtig zum Hauptkamm vor. Manchmal ist die weiße Pracht deshalb Mangelware, oder sie fällt dann, wenn sie keiner braucht. Zum Beispiel im August. Der Trumpf von Juf ist aber seine Höhenlage. Hier fällt Niederschlag auch dann als Schnee, wenn es in tieferen Etagen längst regnet. Da fragt man sich schon, warum Menschen überhaupt dauerhaft hier leben wollen, am Ende dieses lang gestreckten Hochtals, das von oben, bei unseren Skitouren, so verletzlich wirkt, ständig bedroht von massiven Lawinen.
Die Antwort kennt Theres Menn-Buchli, die in Juf einen Hof bewirtschaftet. Ihr Schwiegervater war der Erste, der ab 1948 ganzjährig oben blieb. Das Tal wurde zwar bereits im 13. Jahrhundert von Walsern besiedelt, aber aus Juf gingen sie spätestens im Advent weg, zogen in tiefere, wärmere Regionen. Als der Schwiegervater von Theres seine Entscheidung verkündete, sagten die anderen: „Du hast ja eine Meise – mit Frau und Kindern hier überwintern.“ Aber er hatte das ewige Rauf und Runter eben satt. „Es war schon sehr hart früher“, sagt Theres, „für Romantik blieb da kein Platz. Einmal rauschte eine Lawine ins Haus, erst im Wohnzimmer kam sie zum Stillstand. Mein Mann war zum Glück nebenan.“ Nun ja, komfortabel ist es auch heute noch nicht. Muss ein Kind zum Arzt, geht ein halber Tag flöten. Man möchte Theres jetzt fragen, was sie von den vielen so luxuriösen wie künstlichen Alm- und Hüttendörfern hält, die überall in den Alpen aus dem Boden schießen, aber sie ist schon wieder auf dem Sprung: „Muss in den Stall!“
Und wir, wir müssen – dürfen – wieder auf Skitour. Obwohl uns schon klar ist, dass wir all die jungfräulichen Hänge in einer Woche gar nicht zerfahren können. Einmal erkunden wir das Bergalga-Tal und steigen auf einen Vorgipfel des Tscheischhorns. Dann nehmen wir von Pürt aus den Mittler Wissberg ins Visier.
Schräge Vögel mit Herz
Beim Aufstieg fällt uns eine einsam am Hang klebende, einfache Hütte auf, neben der ein Indianer-Tipi steht. Wir fragen Tobi, wer dort wohnt. „Das ist der Martin“, erklärt unser Bergführer. „Der sieht aus wie Rod Stewart und hat auch genauso eine Stimme. Martin arbeitet oben am Schlepplift. Jeden Morgen wandert er mit Tourenskiern von seiner Hütte zum Lift hinüber, am Abend wieder zurück. Und ansonsten hat er gern seine Ruhe.“
Man merkt, dass Tobi für solche schrägen Vögel viel Sympathie hegt. Er ist ja selbst ein bisschen anders als die anderen. Verdiente sein Geld eine Zeit lang mit Theaterspielen, ehe er Bergführer wurde und an der Sporthochschule Köln Sportpsychologie lehrte. War in der Kölner Hausbesetzer-Szene aktiv. Hat noch Ideale. Trägt nicht die neuesten Funk-tionsklamotten, sondern eine schon leicht ausgebleichte „Burton“-Snowboardhose und eine Schiebermütze dazu. Die wird er auch am Ostersonntag nicht abnehmen, wenn er mit Pfarrer Andi ein Bier, „Calanda“ oder „Feldschlösschen“, zischt – hier, am Anfang der Welt.