Dem Himmel so nah

Der Fundort der Himmelsscheibe, hier nach der touristischen Überarbeitung (Himmelsauge), liegt auf dem Gipfel des 252 m hohen Mittelbergs in der Gemarkung Ziegelroda, etwa 4 km westlich der Stadt Nebra, inmitten des Ziegelrodaer Forstes.
© Astrid Möslinger

Blick auf den Marktplatz in Halle (Saale)
© Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalt mbH/Francesco Carovillano

Arche Nebra: Der exzentrische, gelbe Bau erinnert an ein Ufo, ist aber der Sonnenbarke auf der Himmelsscheibe nachempfunden.
© Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalt mbH/Frank Boxler
Auf dem Himmelsscheibenradweg zwischen Halle und Nebra lernt man die Bronzezeit kennen.
Astrid Möslinger (Text)
Was für eine quirlige Stadt! Das ist der erste Eindruck von Halle. Wer vom Bahnhof in die sehenswerte Altstadt will, muss über den Riebeckplatz und dabei unter der Hochstraße hindurch, die Halle-Neustadt mit dem Umland verbindet. Für astronomisch Interessierte bietet Händels Geburtsstadt im Landesmuseum für Vorgeschichte eine besondere Attraktion – die Himmelsscheibe von Nebra.
Schon ihre Entdeckung vor über 20 Jahren liest sich wie ein Krimi. Raubgräber spürten sie mit ihren Sonden in der Nähe von Nebra auf und verhökerten sie illegal. Sie ahnten nichts von ihrem Jahrhundertfund. Inzwischen gehört die Scheibe zum UNESCO-Weltdokumentenerbe und gilt als die älteste Darstellung von konkreten Himmelsphänomenen – nichts Vergleichbares ist aus dieser Zeit erhalten geblieben. Die Archäologie leitet von ihr bahnbrechende Erkenntnisse ab, zum Beispiel, dass die Menschen vor 4000 Jahren vernetzter waren als angenommen. Die Fürsten im heutigen Mitteldeutschland waren die Global Player der Bronzezeit, durch ihr Territorium verliefen wichtige Handelswege an die Ostsee, nach England und Mesopotamien.
Zeugnisse prähistorischer Vorfahren
Zurück in der Gegenwart: Steht man vor dem gut gehüteten Schatz, wirkt er erstaunlich fragil. Die grünlich verwitterte Bronzeplatte hat die Größe einer Pizza, auf der Sonne, Mond und Sterne golden glänzen. Unsere 185 Kilometer lange Radtour führt an ihren Geheimnissen entlang. Die Bronzezeitmenschen hinterließen weder Schriften, noch ein Weltbild oder religiöse Botschaften, sondern nur Pfostenlöcher, Horte mit Beilen, Dolchen und Schmuck sowie monumentale Fürstengräber. Das macht neugierig. Wie haben die Menschen damals gedacht? Was fanden sie schön? Wie haben sie Erfolg gemessen? Haben sie genauso viel geredet wie wir?
Sonntagvormittag, die erste Etappe verläuft durch die Saaleauen nach Naumburg. Schäfchen-Wolken im hellblauen Himmel. Hinter einer Laubhecke kräht ein Hahn, auf der Straße sitzt eine schwarze Katze. In Weißenfels nehmen wir die Abzweigung nach Goseck, dort befindet sich die Kreisgrabenanlage von Goseck, ein steinzeitliches Sonnenobservatorium. Die letzten Kilometer führen durch einen Ahorntunnel steil bergauf. Hinter dem über der Saale thronenden Schloss Goseck mit seiner fast tausend Jahre alten Klosterkirche erstreckt sich eine kleine Hochebene. Das Sonnen-observatorium unserer prähistorischen Vorfahren liegt auf einer Wiese, die sich leicht nach Norden neigt, als wolle sie dem Himmel damit näher kommen. Seine beiden Ringe aus Holzpfosten mit einem Durchmesser von 75 Metern könnten ein rätselhaftes Landart-Projekt sein. Tatsächlich hatte die Ringanlage eine kalendarische Funktion. Sie markierte mit zwei Toren den Sonnenauf- und -untergang am kürzesten Tag des Jahres. Nach Luftbildaufnahmen rekonstruiert, funktioniert das Bauwerk wie eine in die Wiese gestampfte Himmelscheibe. Nur mit seinen 7000 Jahren ist es fast doppelt so alt. Ein magischer Ort.
Auf zur schönen Uta
An der dunkel funkelnden Saale entlang rollen wir weiter nach Naumburg. Gelegentlich brummt eine kleine Jacht vorbei oder wir hören das leise Plätschern eines Kajakfahrers, der sein Paddel durchs Wasser zieht. Wie, so überlegen wir, haben Menschen der Bronzezeit den Fluss genutzt? Haben sie sich im Einbaum fortbewegt und auf Flößen Waren befördert? In Naumburg wird die Zeituhr einige Jahrtausende nach vorne gedreht. Im romanischen Dom St. Peter und St. Paul, seit 2018 UNESCO-Weltkulturerbe, steht die berühmte Steinfigur „Uta von Naumburg“, allgemein als eine Darstellung der Uta von Ballenstedt angesehen, angeblich die schönste Frau des Mittelalters und Ehefrau des Markgrafen Ekkehard II. von Meißen. Auch die Bronzezeitmenschen hatten schon fein geschnittene Gesichter, die unserem gegenwärtigen Schönheitsideal entsprechen. Das zeigen die im Landesmuseum Halle nach Knochenfunden rekons-truierten Köpfe.
Am nächsten Morgen regnet es. Das seit Tagen angekündigte Tiefdruckgebiet hat sich im sog. Regenschatten des Harzes nun doch breitgemacht. Einen Vorteil hat das schlechte Wetter: Wir haben die Strecke für uns, von blauem Himmel allerdings keine Spur.
Inzwischen sind wir an das Flüsschen Unstrut abgebogen, dem nördlichsten Weinanbaugebiet Deutschlands. Die Güter werben mit Slogans wie herzoglicher Anbau und Edellagen, während sich auf der anderen Flussseite die Datschen, die Wochenendhäuschen aus DDR-Zeiten, aneinanderreihen.
Kurz vor Nebra weitet sich das Tal. Die Stadt, die der weltberühmten Himmelsscheibe ihren Namen gab, ist dann leider ganz anders als das in dezentem Pastell renovierte Naumburg. Es herrscht viel Leerstand, die Häuser wirken eher grau, einzig das Geburtshaus von Hedwig Courths-Mahler, einer Bestsellerautorin von kitschigen Liebesromanen, leuchtet kanariengelb.

Rekonstruierte Fundsituation des Hortes von Nebra
© Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt/Foto: Juraj Lipták

Die „Uta von Naumburg“ genannte, farbig gefasste Steinfigur im Westchor des Naumburger Doms ist eines der bedeutendsten plastischen Bildwerke der deutschen Gotik und wird allgemein als Darstellung der Uta von Ballenstedt angesehen, der Ehefrau des Markgrafen Ekkehard II. von Meißen. Sie ist eine von 12 Naumburger Stifterfiguren im Dom und wurde Mitte des 13. Jhs. vom sog. Naumburger Meister geschaffen.
© Bildarchiv der Vereinigten Domstifter/Foto: M. Rutkowski
Besucherzentrum mit exzentrischer Architektur
Jetzt sind wir nur noch wenige Kilometer vom legendären Fundort der Himmelsscheibe auf dem Mittelberg entfernt. Am Fuße dieses Hügels, im Ortsteil Wangen, wurde ein Besucherzentrum errichtet, die Arche Nebra. Eine exzentrische Architektur, die aussieht wie ein gerade gelandetes Ufo, eigentlich aber der Sonnenbarke auf der Himmelsscheibe nachempfunden ist. In den meterhohen Panoramafenstern des futuristischen Baus spiegeln sich Landschaft und Wolken.
Im Bauch der Arche leistet die Historikerin Manuela Werner Vermittlungsarbeit. „Wir sind ein Schaufenster für die Archäologie und für die bunten, lustigen Geschichten zuständig“, erklärt Werner, blonder Kurzhaarschnitt, blaue Augen und Nebra-grüner Kurzarmpullover, freundlich lächelnd. Das Zentrum beher-bergt ein Planetarium und eine kurzweilige Ausstellung mit Videos und Info-
Stationen. Die Aktivitäten von Werner und ihren Kollegen haben inzwischen auch in der Region gefruchtet. Die Scheibe sei für die Einheimischen identitätsstiftend, freut sie sich.
Hinter Nebra verlässt der Radweg das Unstruttal wieder in Richtung Halle. Der Fundort, auch ein prähistorisches Himmelsobservatorium, bietet von seinem schiefen Turm einen Rundumblick über die Baumwipfel. Weiter geht es auf einer etwas ungemütlichen Schotterpiste Richtung Querfurt. Die massive Burganlage hielt selbst dem Dreißigjährigen Krieg stand und diente vor einiger Zeit als Kulisse für die Verfilmung des Romans „Der Medicus“.
Wein, Idylle und kaum Touristen
Am nächsten Morgen ist der Himmel wolkenfrei. Wir fahren durch Dörfer mit mittelalterlichen Steinkirchen, die in einer Zeitschleife zu verharren scheinen. Nur selten kommt ein Auto vorbei. Zwischen hohen Schilfgräsern weist ein Schild zum Salzigen See. Tatsächlich riecht es plötzlich wie am Meer. Nach einer langen Steigung erreichen wir den Süßen See, ein kleines Erholungsgebiet, überragt von einer der größten und ältes-ten Burgen Mitteldeutschlands. Die Eiszeit hat die Landschaft hier zu sanften Wellen geformt. An ihren Südseiten gedeiht schon seit 990 Jahren Wein. In Bauerngärten leuchten Sonnenblumen, Ringelblumen und Kapuzinerkresse.
Am Nachmittag bewegen wir uns über die Dölauer Heide und die Weinbergwiesen auf Halle zu. Hinter dunklem Grün spitzen die Plattenbauten der Neustadt hervor. Wir überqueren die Saale und sind wieder im quirligen Hier und Jetzt, weit weg von den Bronzezeitmenschen, die irgendwann aus unbekannten Gründen die Himmelsscheibe mit Schmuck, Beilen und Schwertern so würdevoll wie einen Fürsten begraben haben.