Balkon Europas

Am Fuß des Kasbek wurde im 14. Jh. unter dem König Giorgi V. die Dreifaltigkeitskirche von Gergeti als Symbol der religiösen Auferstehung und Wiedervereinigung Georgiens, nach der Befreiung von den Mongolen erbaut.
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Wanderungen im großen Kaukasus werden nahezu immer von 5000er Bergen flankiert.
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Nur knapp 60 km nördlich der georgischen Hauptstadt Tiflis liegt, direkt oberhalb des Stausees Shinwali, die Wehrkirche Ananuri.
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Am schiefen Turm der Hauptstadt findet täglich um 12 und 19 Uhr ein Marionettentheater statt. Zu jeder vollen Stunde schlägt ein Engel mit einem Hammer die Glocke.
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Die markanten Wohntürme aus dem 10. Jh. des Dorfes Ushguli gehören seit 1996 zum UNESCO-Weltkulturerbe.
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Auf der Reise zu den schönsten Punkten Georgiens darf ein Stopp am Martvili-Canyon mit Bootsfahrt nicht fehlen.
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Mitten im Kaukasus gelegen, verzaubert Georgien nicht nur mit seinen kontrastreichen Landschaften, sondern auch mit seinen herzlichen und gastfreundlichen Bewohnern sowie der leckeren georgischen Küche.
Kurt Sohnemann (Text und Bilder)
Mestia. Als der Autofahrer seine Geschwindigkeit auf 30 km/h abbremst, weil sich ein paar Kühe in aller Seelenruhe auf die Fahrbahn begeben, ist da immer noch eine Lücke für die junge Reiterin und ihren Wallach, um mit knapp 60 km/h die Gruppe in gestrecktem Galopp zu überholen. Auch wenn die Situation für einen Mitteleuropäer befremdlich ist, für Georgien gehört das Miteinander von Mensch und Tier zum täglichen Leben, auch im Straßenverkehr.
Georgien, das Land im Kaukasus, hat eine eigene Sprache und Schrift und ist bekannt als Wiege des Weins. Es ist eines der ältesten christlichen Länder und zugleich das modernste in dieser Region. Nach dem leidlich erfolgreichen Kampf gegen die Korruption sind Alltag und Bürokratie voll digitalisiert. Der Wandel und die neue Transparenz wird in der Hauptstadt Tiflis (Tbilisi) durch moderne Architektur mit viel Glas symbolisiert — aber gleichzeitig zerfällt die zauberhafte Altstadt. Der Bruch zwischen futuristisch effekthaschenden Bauten und den doch mehrheitlich ärmlichen Behausungen der 1,1 Millionen Bewohner (ein Drittel aller Georgier) der Hauptstadt ist augenfällig.
Ein Fabelwesen mit westlichem Kopf und östlichem Rumpf ...
nannte Boris Pastnak, russischer Literaturnobelpreisträger, Tiflis. 40 Mal wurde die Stadt erobert, zerstört und wiederaufgebaut, von Arabern und Mongolen, Persern, Osmanen und Russen. Einen guten Überblick über Tiflis bietet der heilige Hausberg Mtazminda – am bequemsten zu erreichen mit der Seilbahn hinauf zum Ausflugsrestaurant. Von der Terrasse schweift der Blick über orthodoxe Kirchen und Moscheen, Plattenbauten und Holzhäuser mit geschnitzten Balkonen, antike Festungsmauern und hypermoderne Glasbauten. Und hinüber zur monumentalen Statue Kartlis Deda (Mutter Georgiens). In der rechten Hand hält sie ein Schwert, in der linken eine Weinschale – der passende Empfang für Freund und Feind.
Land mit 1000 Gesichtern
Aber das eigentliche Ziel der meisten Touristen ist die imposante Natur Georgiens. Ein kleines Land zwar, dafür hat es aber eine immense Vielfalt an unterschiedlichen Landschaften. Die Steppenwüste im Südosten, das Weinland Kachetien mit viel Grün und schönen Tälern im Osten, im Norden der Große Kaukasus mit seiner rauen Bergwelt und im Westen die Schwarzmeerküste und ein gemäßigter Regenwald, wo Tee angebaut wird. Es gibt viel zu entdecken in diesem Land.
Sagenumwobene Gipfel wie der Kasbek, an den die griechischen Götter Prometheus ketteten, weil er ihnen das Feuer gestohlen hatte, locken Bergsteiger, die hochalpine Touren bevorzugen. Die Fahrt zu seinen Füssen lässt indes den Blick vom Dschwari-Kloster auf die ehemalige Hauptstadt Mzcheta zu, die als UNESCO-Weltkulturerbe im Tal des Mtkwari liegt und als religiöses Zentrum gilt. Mzcheta ist umgeben von Kirchen und Klöstern. Sie verdeutlichen die tiefe Religiosität der Georgier.
Das Kloster Dschwari besteht heute noch aus einer Ruine und wurde 545 von Guaram I. Kuropalat erbaut. Dschwari gilt als Modellkirche für viele andere Bauwerke ihrer Art. In der alten Hauptstadt Mzcheta war die Smetizchoweli-Kathedrale über mehrere Jahrhunderte Krönungs- und Begräbniskirche georgischer Monarchen und ist zugleich Hauptkirche der georgisch orthodoxen Christen.
Trekking-Routen für alle Ansprüche
Durch Nussbaumplantagen führt die Fahrt zu den begehrten Trekkingrouten am großen Kaukasus unweit der russischen Grenze. Von 1700 bis knapp über 5000 Höhenmeter erstrecken sich die Wanderwege unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade. Einer der schönsten führt von Stepansminda zur Gergeti-Dreifaltigkeitskirche, die auf einer 2170 Meter gelegenen Anhöhe einen herrlichen Blick auf den Kasbek bietet. Als einer der höchsten Gletscher im Kaukasus ragt er schneeweiß aus der Gebirgskette heraus.
Die Gergeti-Dreifaltigkeitskirche hat ihren Ursprung im 14. Jahrhundert wird gern als Wahrzeichen Georgiens genutzt. Jahrhundertelang wurde in der Kirche das Weinrebenkreuz der heiligen Nino aufbewahrt. Sie ist bis in die heutige Zeit eine feste Größe der georgisch-orthodoxen Kirche, hat um 300 nach Chr. gelebt und die Georgier zum Christentum bekehrt.
Georgien bewegt sich politisch auf dem dünnen Eis der Neutralität
Egal, wo in Georgien, an der aktuellen politischen Gemengelage in der Großregion kommt man nicht vorbei. „Ich komme liebend gern hier her, denn auf unserer Seite des Gebirges gibt es nicht so traumhaft schöne Perspektiven“, lobt eine wandernde Russin, die wir unterwegs treffen. „Über den Krieg in der Ukraine bin ich sehr unglücklich“, beteuert sie und betont, dass diese Eskalation nicht der Wille ihres Volkes ist.
In Georgien wird der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine bestimmt aber vorsichtig abgelehnt. Nahezu immer schwingt Angst vor den Machthabern in Russland mit, wenn die Georgier ihre Verbundenheit mit der Ukraine betonen. „Wenn die Ukrainer uns nicht geholfen hätten, wäre der 8-Tage-Krieg noch schlimmer gewesen“, erinnert sich Nino Gelekva von der Tourismuszentrale Georgiens, „wir haben derzeit weit über 40.000 Menschen aus der Ukraine aufgenommen, die auch eine kleine staatliche Unterstützung erhalten.“
Wie stark die Verbundenheit ist, zeigt sich auch am Unabhängigkeitstag der Ukraine, als in der Innenstadt von Tiflis viele Geschäfte einen Teil der Einnahmen für die Flüchtlinge bereitstellen und die gelb-blauen Flaggen vor den Häusern unübersehbar sind. Bekanntermaßen sind die Teilrepubliken Abchasien und Südossetien nach dem Krieg 2008 von Georgien gelöst und sind seither russisch beeinflusst. Seither wird in der Schule offiziell die russische Sprache nicht mehr unterrichtet.
Unberührte Natur, fast für dich alleine
Ein saftig grünes Hochtal wird den Wanderern im Sno-Tal geboten. Vom Bergdorf Dschuta aus können hier Halbtages- und Tageswanderungen unternommen werden, die auf 2550 und auch 3842 Meter hoch führen. Immer flankiert von den rauschenden Zuläufen des Flusses Sno, den Wasserfällen und einigen Bergseen werden die Wanderer von landschaftlicher Schönheit geradezu erdrückt. Felsenzacken am Horizont und riesige Rhododendronfelder am Fuße des Bergs Tschauchebi (3842 Meter) schaffen je nach Jahreszeit eine faszinierende Farblandschaft.
Im Nordwesten Georgiens, wo Mestia die größte Stadt der Region Swanetien ist, sind dann auch die vielen Wehrtürme in den Ortschaften nicht mehr zu übersehen. In diesen „Koschkis“ wie die Wehrtürme von den Einheimischen genannt werden, verschanzten sich die einzelnen Familien, um sich samt ihrem Vieh vor Feinden zu schützen und aus den Scharten der Türme zu schießen, wenn Gefahren drohten.
Mittelalterliches Bilderbuchdorf
Der berühmteste Fernwanderweg führt in vier Tagen von Mestia nach Uschguli, vorbei an den 4700 Meter hohen Hörnern des Uschba wandert man gen Osten, durch Bergwald, über Grashänge, Einheimische mit Pferden helfen durch einen eiskalten Fluss und wird am Ende mit dem grandiosen Anblick von Ushguli belohnt – ein Dorf mit Wehrtürmen aus dem Mittelalter, überragt von der 5200 Meter hohen Eis- und Felswand des Berges Schchara. Übernachtet wird in Bauernhäusern, das Abendessen servieren die Familien im Wohnzimmer.
Kulinarisches Feuerwerk
Die Gastfreundschaft der Georgier ist legendär. Wer hier einmal am Tisch Platz genommen hat, wird immer von dem Speisenreichtum schwärmen. Typisch georgisch sind Nüsse und Honig als Zutaten. Frisches Gemüse und Obst sind ebenso Bestandteile der mehrgängigen Speisenfolgen wie Eier- und Fleischvarianten, gern werden Hühner für die Mahlzeiten geopfert. Vielfältige Kräutermischungen sorgen für die individuellen Geschmacksrichtungen: Knoblauch, Kardamom, svanetisches Salz, Chili, Koriander und Bockshornklee. Vielfach wird mit Hefeteig gearbeitet, wie etwa beim Khinkali, Teigtaschen, in die wahlweise Ei, Walnuss-paste, Spinat oder Rote-Bete-Paste eingebacken wird.
Georgische Naturweine voll im Trend
Georgien zu besuchen, heißt aber auch, in die Geschichte des Weinbaus einzutauchen. Schon vor 8000 Jahren wurde das begehrte Getränk angebaut. Traditionell wurde der Wein zum Vergären in riesige Tonamphoren gefüllt, die im Boden vergraben sind. In diesen Qvevris gärt die Maische wochenlang, danach wird der Wein luftdicht abgeschlossen und darf sechs Monate oder länger reifen. Ungefiltert abgefüllt, sind die bernsteinfarbenen und erstaunlich tanninhaltigen Weißweine dieses Tage höchst begehrt bei Naturweinkennern.
In den grünen Hügeln um die Regionshauptstadt Telavi finden Reisende die meisten Winzer, die ihre Tropfen im Qvevri ausbauen. Seit zehn Jahren gehört die uralte Methode zum immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO, zum Stolz der Georgier. Wobei mehr als 90 Prozent der Weine (es gibt übrigens über 500 Rebsorten in Georgien) aber konventionell im Stahltank hergestellt werden, vor allem der weiße Rkatsiteli oder der rote Saperavi.
Für den internationalen Weinexperte Jens Priewe ist Georgien das „Schlüsselland für die moderne Önologie“, die „New York Times“ hypt georgische Weine als weltbeste Tropfen – und empfiehlt die Region Kachetien im Osten des Landes als einen der 52 places to go für 2023. Zum Wohl – gaumardschoss!