Seen, Sonne, Sternschnuppen

Die „MS Classic Lady“ legt an verschiedenen Plätzen an, von denen die Radtouren starten.
© Thorsten Brönner

Viele Wege in Masuren sind verkehrsfrei. Aber teils radelt man über Naturbelag.
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Seelenlandschaft aus Seen, Wäldern, Wiesen und Weite
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In den Sommermonaten geht die Sonne frühmorgens auf. Wer dann aufsteht, hat Masuren für sich alleine.
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Die 1843 erbaute Stadtkirche in Pisz ist die größte Fachwerkkirche in Masuren.
© Thorsten Brönner
Masuren ist ideal für Urlauber, die Ruhe in der Natur suchen. Perfekte Form: mit dem Rad das Land erkunden und dann auf der „MS Classic Lady“ entspannen …
Thorsten Brönner (Bilder und Text)
Wer den Nordosten Polens auf einer Karte betrachtet, erkennt zwischen den weiten Forsten große und kleine Wasserflächen. Alles ist friedlich, denkt man – doch das war zeitweise anders. Ich bin hierhergereist, um für mich ein wenig Licht in das Dunkel der Geschichte zu bringen. Zunächst erliegt der Kopf dem Zauber der Landschaft. Gegen 6:30 Uhr schleiche ich mich von der „MS Classic Lady“, schaukle den Bootssteg entlang, springe auf das sandige Ufer. Der Schatten, den die Nadelbäume auf das verschlafen daliegende Aktiv-Resort „Piaski“ werfen, weicht langsam zurück. Es ist, als ob ein Bühnenvorhang hochgezogen wird. Nur für mich alleine. Die Sonne bricht hervor und verleiht dem spiegelglatten Beldany-See Anmut. Er ist eine der rund 3000 Perlen der Masurischen Seenplatte. Sie liegt in der Woiwodschaft (Verwaltungsbezirk) Ermland-Masuren. Hier leben 1,4 Millionen Menschen auf einer Fläche von 24.000 Quadratkilometern, einem Gebiet, etwas größer als Mecklenburg-Vorpommern. Die Sommer sind teils heiß, die Winter mit bis zu minus 40 Grad eisig.
Polens größte Wasserwildnis
Ich spaziere wieder an Deck des blütenweißen Hausboots. Es dient uns in den nächsten sieben Tagen als Herberge, Speisesalon und Liegeterrasse. Und es dient als Basis für Ausflüge mit dem Fahrrad. Zygmunt Matuszczak, den alle kurz „Sigi“ rufen, ist ein Kind der Region. Der freundliche Pole mit dem weißen Haar ist zweisprachig aufgewachsen und arbeitet als Lehrer. Jetzt sind Sommerferien, und wir lauschen seinen Schilderungen über Land und Leute. Sigi weist die Räder zu, verteilt die Packtaschen. Wir stellen die Helme ein, passen die Höhe der Sättel an, testen die Schaltungen. Dann setzt sich die 24-köpfige Gruppe einer Karawane gleich in Bewegung. Leicht ansteigend verlässt die holprige Fahrspur das Seeufer. Nach wenigen Pedalumdrehungen schluckt uns die 1000 Quadratmeter große Puszcza Piska. Als der Landstrich Teil Ostpreußens war, nannte man ihn die Johannisburger Heide. Die Luft ist erfüllt vom Wohlgeruch der Kiefer- und Fichtennadeln. Wir rollen mal auf Asphaltstraßen, mal über Kieswege. Die Orte tragen Namen wie Wejsuny, Karwik und Pisz. Es geht durch Lichtungen, vorbei an Seen. Hier erspäht das Auge Weißstörche, dort greifen die Baumkronen einer Allee ineinander. Die hektische Welt ist auf Abstand. In den Gesichtern meiner Weggefährten sehe ich die Begeisterung wachsen.
Zwischen Himmel und Hölle
Der zweite Reisetag ist ein Wechselbad der Gefühle. In der Nacht fegen heftige Gewitter über die Wälder. Das Zucken der Blitze erhellt im Minutentakt meine Kabine. Während wir uns am Frühstück bedienen, rinnen die Regentropfen an den Panoramafenstern hinab. Sigi greift zum Telefon, organisiert einen Reisebus; die Fahrräder haben Pause. Der Fahrer steuert die barocke Wallfahrtskirche Heiligelinde an. Ehrfurchtsvoll schreiten wir hinter unserem Reiseleiter her und lauschen: »Das Gotteshaus wurde gegen Ende des 17. Jahrhunderts errichtet und der Jungfrau Maria geweiht.« Sigi deutet auf die Holzbänke: »Nehmt Platz. Gleich beginnt das Orgelkonzert – es wird euch gefallen.« Wir tun es den polnischen Pilgern gleich und blicken gespannt nach oben. Stille. Dann ertönen die dumpfen Klänge des 40-stimmigen Instruments. Wir sehen bewegliche Figuren umhertanzen, Engel trompeten. Die Eindrücke begleiten uns auf der 22 Kilometer-Busfahrt Richtung Osten.
Auf dem Waldparkplatz neben einer zugewachsenen Gleisanlage erleben wir einen radikalen Kulissenwechsel: Wieder Stille, wieder redet keiner. Aber dieses Mal ist die Stimmung gedrückt. Vor uns liegt die Schaltzentrale des dunkelsten Kapitels der Weltgeschichte – das NS-Führerhauptquartier Wolfsschanze. Von hier aus plante das NS-Regime den Überfall auf die nur wenige Kilometer entfernte Sowjetunion. Was man heute noch sieht? Gesprengte mit Moos überwucherte Bunker. Überall Bäume, deren Blätterdach kaum Licht zum Boden durchlässt. Es scheint, als ob der Wald sich wie eine geronnene Wunde über die Relikte der Schreckenszeit legt. Beklommen laufen wir zwischen den Trümmern umher und können das Geschehene doch nicht fassen.
Im Rhythmus der Natur
Auf den nächsten Etappen gibt die Natur den Rhythmus vor. Die Augustsonne verwöhnt tagein, tagaus das Land. Längst haben wir die Trittfrequenz an die Seenplatte angepasst. Wir besichtigen die preußische Ringfestung Boyen, planschen im Goldapgansee. Hier und da holpern die Räder durch tückische Sandpassagen. Abends belohnt uns das Küchenpersonal mit leckeren Drei-Gänge-Menüs. Bis weit in die Nacht hinein sitzen wir auf dem Sonnendeck. Oben wölbt sich das Weltall von Horizont zu Horizont. Wir zählen die Sternschnuppen der Perseiden und philosophieren bei polnischem Bier über das Universum.
Am letzten Radtag schlägt das Wetter um. Die Konturen verschwimmen. Begleitet von einem Schauer, radeln wir westwärts durch den dunklen Wald. Nach einer Stunde im Sattel ist das 230-Seelen-Dorf Wojnowo (Eckertsdorf) erreicht. Der Regen fällt stärker und treibt uns durch die Pforte der 1840 erbauten Kirche. Hinter der blau-weiß angestrichenen Fassade mit den zwei orthodoxen Zwiebeltürmen tauchen wir in eine andere Welt ein. Auf dem Boden haben die Schwestern detailreiche Teppiche ausgelegt. Kerzen verbreiten einen betörenden Wohlgeruch. Darüber mustert das Auge prächtige Ikonen, die goldene Rahmen einfassen.
Die Wolken reißen auseinander. Zurück auf der Straße weichen wir Pfützen aus, genießen erneut die Strahlen der Sonne. In Kruty (Kruttinnen) erwartet uns eine Überraschung: Dort stehen zwei Stocherkähne bereit. Am Ende der flachen Holzboote steht je ein Mann. Er stößt den Kahn mit kräftigen Armbewegungen vom Kiesbett der Krutynia ab. Unten jagen in dem glasklaren Fluss Fische davon. Oben ragen die Äste der Laubbäume auf das Wasser hinaus. Urwaldfeeling setzt ein.
„… Vielleicht ist dies der höchste Grad der Liebe: zu lieben ohne zu besitzen.“
Marion Gräfin Dönhoff, Publizistin
Danach strampeln wir weiter in den Nachbarort Galkowo (Galkowen). Die Räder stoppen vor einem historischen Jagdhof aus dem 19. Jahrhundert. Rings um das mit dunklen Holzplanken verkleidete Herrenhaus weiden Wielkopolski-Pferde und Trakehner. Sigi führt uns durch das Restaurant und über die knarzende Holztreppe hinauf in den »Salon Marion Dönhoff«. Hier erinnert eine Büchersammlung an die 1909 in Ostpreußen geborene Publizistin Marion Gräfin Dönhoff. Sie forcierte die Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen. In ihrem Buch „Kindheit in Ostpreußen“ schreibt sie: »Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß der höchste Grad der Liebe zur Heimat dadurch dokumentiert wird, daß man sich in Haß verrennt gegen diejenigen, die sie in Besitz genommen haben, und daß man jene verleumdet, die einer Versöhnung zustimmen … Vielleicht ist dies der höchste Grad der Liebe: zu lieben ohne zu besitzen.«
Die „MS Classic Lady“ legt ein letztes Mal an. Am finalen Abend prosten wir uns zu und sprechen einen Toast auf Sigi aus. Er war für uns Wegbereiter, Fahrradmechaniker, Übersetzer, wandelndes Geschichtslexikon und Witzeerzähler. Von ihm haben wir Masuren aus erster Hand kennengelernt. Ich blicke durch das Fenster auf den Beldany-See. Die Dämmerung fällt über das Land herab. Meine Gedanken schweifen zurück zu den wogenden Wiesen und Feldern. Mir kommen die Dörfer mit ihren roten Backsteinhäusern in den Sinn, dazu die herzlichen Polen. In der Ferne zuckt ein Gewitterblitz. Er bringt kurz Licht ins Dunkel des Waldes, und das Zauberland gibt ein weiteres kleines Stück seines Geheimnisses preis. Ach, Masuren!

Nikolaiken liegt am Spirdingsee.
© Thorsten Brönner

Die Stocherkahnfahrten auf dem Fluss Krutynia sind bei Touristen sehr beliebt.
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Die Wallfahrtskirche Heiligenlinde ist innen wie außen eine Augenweide.
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