Ein ganz eigenes Tempo

Fischer bei der Arbeit im Nicaraguasee
© Oliver Gerhard

Bunter Fang: Fischer Ignacio Vidal holt sein Netz ein.
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Die Altstadt von Granada im Abendlicht
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Bäume beschatten den Parque Central von Granada.
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Kutschen rollen noch durch Granada.
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Ein Straßenhändler ist mit seinem Handkarren unterwegs.
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Ruhestätte mit kolonialem Flair: Friedhof von Granada
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Rund 400 Inseln liegen im Lago de Nicaragua, dem größten See Mittelamerikas. Deren Bewohner erzählen von gefräßigen Krokodilen, Feuerbergen – und ihrem Alltag abseits des Weltgeschehens.
Oliver Gerhard (Bilder und Text)
Ein lautes Prusten durchbricht die Stille. Bayardo Betancourt taucht aus dem Nicaraguasee und hält ein Netz mit drei zappelnden bunten Fischen in die Höhe. Der kräftige Mann mit rasiertem Schädel befreit die Tiere aus den Maschen und wirft sie in das kleine, selbst gebaute Motorboot zu seinem Kollegen Ignacio Vidal.
Wo das Herz des Landes schlägt
Die beiden Männer arbeiten konzentriert, für ihre Umgebung haben sie kaum einen Blick: Die ersten Sonnenstrahlen färben den Lago de Nicaragua rosa und bringen die Stämme der Kapokbäume am Ufer zum Glühen. Grüne Papageien flattern durch die Wipfel, im Schilf halten Silberreiher Ausschau nach ihrem Frühstück. Nur der breite Rücken des Vulkans Mombacho versteckt sich noch hinter einer Wolkenwand. Bis zur Hüfte im Wasser stehend, müsste Betancourt eigentlich nervös sein, denn im größten See Mittelamerikas leben Krokodile und Bullenhaie. Doch nach mehr als 20 Jahren als Fischer lässt er sich davon nicht mehr aus der Ruhe bringen. Eigentlich arbeite er als Brunnenbauer, sagt er, aber sein Nebenjob als Fischer sei ihm lieber: „Die Stimmung auf dem See, die saubere Luft, das gefällt mir sehr. Und hier kommandiert mich niemand rum.“
Mit knarrenden Rudern setzen die Männer ihre Fahrt fort. Wer von ihnen eine Litanei erwartet über sinkende Fischbestände und verschmutztes Wasser, wird enttäuscht: Bis zu 70 Euro verdienen sie gemeinsam am Tag – der offizielle Mindestlohn liegt bei 155 Euro im Monat. „Die Konkurrenz ist kein Problem“, sagt Bayardo. „Die schlafen zu Hause und träumen davon, dass die Fische vom Himmel fallen.“ Der 47-Jährige zückt ein kleines, zerschrammtes Handy und zeigt, was die beiden Freunde schon alles gefangen haben: Buntbarsche und Sägefische, Knochenhechte, Krebse und Schildkröten. Abends schlagen sie an einem einsamen Strand auf der Insel Jesus Grande ihr Nachtlager auf und kochen über dem Lagerfeuer Wildbraten oder Hühnchen. Auf keinen Fall Fisch – damit haben sie schließlich den ganzen Tag zu tun.
Am Nicaraguasee schlug schon immer das Herz des Landes. Die Ureinwohner nannten ihn „Cocibolca“, das „Süße Meer“, und nutzten ihn als Trinkwasserreservoir. Knapp 180 Kilometer lang und durchschnittlich 60 Kilometer breit, wird er auch der „Dritte Ozean“ Nicaraguas genannt – das Land grenzt sowohl an den Atlantik als auch an den Pazifik. Und tatsächlich leben im See sogar Salzwasserfische wie der Tarpun.
Gegen neun Uhr ist es vorbei mit der Ruhe auf dem Nicaraguasee: Überdachte Boote chauffieren Touristen vorbei an den beiden Fischern durch das Labyrinth der Isletas, einer Gruppe aus 360 kleinen Inseln. Es sind „Töchter“ des Mombacho, die der Vulkan einst bei einer seiner Eruptionen in den See schleuderte. Seit dem Jahr 1570 liegt er im Tiefschlaf. Die Inseln dagegen strotzen vor Leben: Manche sind von Urwald bewachsen oder von einem Blütenmeer bedeckt. Auf einer liegt ein historisches Fort, auf einer anderen wohnen Affen, die aus einem privaten Zoo ausgerissen sind. Pelikane dümpeln zwischen Wasserlilien, und Fischadler ziehen ihre Kreise. Auf vielen Inseln haben sich die reichen Familien des Landes Grundstücke gesichert: Politiker und Fernsehstars, Kaffeeproduzenten und Rumfabrikanten.
Vulkane wachen über den See
Der Mombacho ist nicht der einzige Feuerberg, der über den Nicaraguasee wacht: Auf der Insel Ometepe, der größten im See, lebt die Bevölkerung sogar im Schatten von zwei Vulkanen: auf der einen Seite der erloschene Maderas, an dessen Hängen Urwälder wachsen und Kaffee angebaut wird. Auf der anderen der ebenmäßige Kegel des 1610 Meter hohen Concepción, der noch regelmäßig Feuer spuckt.
„Der Berg war in Flammen gebadet, Ströme von Lava ergossen sich in die Tiefe“, sagt Maria Guillermina. „Der Vulkan erschien mir in diesem Augenblick wunderschön. Aber die Älteren fürchteten sich sehr, es gab eine riesige Explosion, und die Häuser wackelten.“ Guillermina war noch ein Kind bei ihrem ersten Vulkanausbruch 1936, die Angst vor dem Berg lernte sie erst später kennen. Die 85-Jährige, die auch als Mittsechzigerin durchgehen könnte, sitzt auf ihrer Veranda im Dörfchen Playa Santa Cruz. Eigentlich ist sie seit kurzem in Rente – nach einem langen Berufsleben als Kindergärtnerin und Altenpflegerin in den USA. Doch nun versorgt sie ihre Mutter Maria Ignacio, 104 Jahre alt. Die alte Dame liest gerade in einem dicken Buch: „Immer noch ohne Brille!“, sagt sie stolz.
Gepunktetes Kleid, Leinenschuhe, goldene Ohrringe: Maria Ignacio hat sich schick gemacht für das Gespräch mit den ausländischen Besuchern. Ihre Hand mit pergamentener Haut ruht auf den aufgeschlagenen Seiten der Bibel, während sie von ihrer Kindheit erzählt. „Alles war sehr einfach damals“, sagt sie. „Es gab keine Straßen, keine Ärzte, keine ausgebildeten Lehrer. Weil der Schulweg durch einen krokodilverseuchten Fluss führte, bezahlte mein Vater ein Mädchen aus dem Dorf, das uns Lesen und Schreiben beibrachte.“

Die Fähre „Che Guevara“ verbindet Ometepe mit dem Festland.
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Hier ticken die Uhren anders
Das soziale Leben fand damals am See statt, an dem die Familien gemeinsam fischen gingen. Die Frauen wuschen hier erst die Kinder, dann sich selbst, dann die Kleider. Alle mussten auf der Hut vor Kaimanen sein: „Einmal hatte ein Krokodil einen Jungen am Fuß gepackt, um ihn ins Wasser zu ziehen“, sagt Maria Ignacio, „und wir zogen an den Armen, bis uns ein Mann zu Hilfe kam und ihn rettete.“
Schon die Nicaraguanische Revolution, die 1979 den Diktator Anastasio Somoza hinwegfegte, war auf Ometepe kaum spürbar. Auch die Pläne des aktuell regierenden Präsidenten Daniel Ortega für einen neuen Kanal, der quer durch den See führen würde, lassen die Inselbewohner kalt: Auf Ometepe gehen die Uhren anders. Erst vor zehn Jahren hat man die erste Straße asphaltiert, seit vergangenem Jahr gibt es Telefon und Strom über ein Unterwasserkabel.
Bei einer Rundfahrt um den Vulkan Concepción hat man den Eindruck einer Zeitreise. Einstöckige bunte Häuser aus Holz und Beton säumen die Hauptstraße, knorrige Bäume, und Buden, in denen das Nötigste für das tägliche Leben verkauft wird. Aus üppigen Gärten wuchern Blüten über die Zäune, Schweine tummeln sich in den Wiesen. Der Sportplatz dient den Pferden als Weide. In den Tabakfeldern mühen sich Männer mit der Hacke.

Jugendliche beobachten die Ankunft der Fähre auf Ometepe.
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Archäologische Schatzkammer
An einem gewaltigen Kapokbaum zweigt eine Erdpiste zu Moises David Ghitis ab, dem inoffiziellen Inselarchäologen. Schon als Kind lief der heute 51-Jährige hinter dem Traktor seines Vaters her und sammelte Tonscherben und Pfeilspitzen, die beim Pflügen zutage kamen. „In der Schule habe ich Spielsachen und manchmal sogar mein letztes Hemd gegen indianische Artefakte eingetauscht“, sagt Ghitis.
Ghitis ist überzeugt, dass Ometepe einst ein bedeutendes Zentrum indianischer Kulturen war – heute sind nur noch drei Prozent der Bevölkerung indianischen Ursprungs. Ghitis sammelte auf der Insel viele Steine mit Petroglyphen, Mörser, Werkzeuge und bauchige Tontöpfe: „Keiner auf der Insel wusste mehr, dass das Urnen sind. Es gab so viele davon, dass die Leute sie als Blumentöpfe nutzten“, sagt er. Vor zehn Jahren verwirklichte er seinen Traum von einem eigenem Museum.
Von Ghitis’ Museum ist es nicht mehr weit bis zum Fährhafen, wo jeden Abend „Che Guevara“ wartet. Klapprige Pick-ups und Laster voller Bananen rattern über hölzerne Bohlen in den Bauch der Fähre mit dem legendären Namen. Das Bild des Revolutionärs ziert nicht nur das Führerhaus, sondern auch die Schwimmwesten, die an alle Passagiere verteilt werden. Gemächlich stampft das Schiff in Richtung Festland, während die letzten Sonnenstrahlen den Vulkan Concepción in ihr Licht tauchen. Beinahe, als würde er wieder in Flammen stehen.

Vorm Gemeinde-haus auf der Insel Ometepe
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Viele Kirchen wie die von Xalteva prägen das koloniale Granada.
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Die 104-Jährige Maria Ignacio liest in der Bibel.
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