Dörfer voller Magie
Es gibt Orte in Mexiko, wo sich die Essenz des Landes mit seiner epischen Geschichte, den Traditionen, Bräuchen und fesselnder Natur vereint: in den »Pueblos Mágicos«. Hier finden Besucher das wahre Mexiko.
Sandra Weber (Text und Bilder)
»Über die Hälfte hast du schon geschafft«, ruft mir ein Mexikaner entgegen. Wie ich schwitzend und keuchend auf den Steinen nach oben balanciere, sehe ich wohl so aus, als bräuchte ich eine kleine Aufmunterung. Mein Ziel ist die sagenumwobene Pyramide des Tepoztecos, die auf einem der majestätischen Berge Tepoztláns thront. Ein abenteuerlicher Fußweg windet sich über mehr als 400 Höhenmeter durch dichten Zauberwald bis zur Pyramide hinauf. Ay Caramba! Mir ist schwindlig, entkräftet halte ich mich an einem Baum fest.
Es ist mir ein Rätsel, wie Stammesangehörige der Xochimilca vor Hunderten von Jahren die Steine zum Bau der Pyramide hochtransportiert haben. Waren sie berauscht? Immerhin haben sie ihre Pyramide Tepoztecátl gewidmet, dem aztekischen Gott der Fruchtbarkeit und des Rausches. Oder aber es war die Magie dieses mystischen Ortes, die den prähispanischen Baumeistern zu übernatürlichen Kräften verholfen hat. Oben auf der Pyramide hoffe ich, etwas von dieser Magie einzufangen.
Ich möchte mich der wahren Seele Mexikos annähern, die geprägt ist von ihrer bewegten prähispanischen Geschichte, dem Erbe der Maya, Olmeken und Azteken. In den 111 »Pueblos Mágicos« (Magischen Orten) hat sich die Essenz Mexikos, sein magischer Zauber, bestens erhalten. Die Dörfer mit ihren atemberaubenden Landschaften und Denkmälern hauchen alten Geschichten von untergegangenen Kulturen, aztekischen Gottheiten und spanischen Eroberern neues Leben ein.
Wo liegt die wahre Seele Mexikos, wo liegt seine Magie verborgen? Ich bin auf Spurensuche in drei unterschiedlichen »Pueblos Mágicos«. Das idyllische Bergdorf Tepoztlán, eine Autostunde südlich von Mexiko-Stadt, ist meine erste Station.
Pyramide, verzauberte Berge und Wellness bei Tepoztlán
Wie ich mich erschöpft auf der Pyramide des Tepozteco ausruhe, spüre ich ihre sonnenwarme Energie an meinem Rücken. Weit unter mir liegen das Dorf und die bergige Landschaft des Bundesstaats Morelos. Es heißt, diese Berge seien verzaubert – einmal von ihnen in den Bann gezogen, ließen sie einen so schnell nicht wieder los. Hier soll vor 1200 Jahren die aztekische Gottheit Quetzalcóatl zur Welt gekommen sein, eine gefiederte Schlange. Ich ahne etwas von der geheimnisvollen Magie Tepoztláns und dem viel beschworenen Magnetismus seiner Berge.
Der Abstieg geht schneller, dafür aber in die Beine. Mein Magen knurrt. Ein Abstecher zum nahegelegenen Markt ist ein Muss, vorbei an bunt bemalten Restaurants, Hippie-Ständen und vollgestopften Souvenirläden. Im Marktgewusel warten regionaltypische Spezialitäten auf ihren Genuss. An seinem Stand treffe ich Gemüsehändler Hernán, 47 Jahre, gebürtiger »Tepozteco«. Er erzählt: »Seit Tepoztlán ein ›Pueblo Mágico‹ ist, kommen immer mehr Touristen«.
Diese schlendern über kopfsteingepflas-terte Gässchen, die sich durch das pittoreske 14.000-Seelen-Dorf schlängeln. Violette Bougainvillea-Blüten leuchten mit dem strahlend blauen Himmel um die Wette. Tepoztlán ist eingebettet in ein grünes Tal auf 1600 Metern Höhe, das von schroff emporragenden Felsformationen umgeben ist. Über den Gassen schwebt esoterisches Hippie-Flair –
Tepoztlán ist ein wahres Sehnsuchtsziel für Sinnsuchende aus allen Ecken der Welt. Wem nach Erholung und Wellness ist, der stößt hier auf ein breites Angebot an Massagen, Reiki, Chakratherapie und aztekischer Naturheilkunde.
Den Tag beende ich mit einem Temazcal-Ritual, einem prähispanischen Schwitzbad mit medizinischen Kräutern, das von traditionellen Gesängen begleitet wird. Während die Muskeln sich entspannen, ist sie wieder da – diese Ahnung von einem alten Mexiko, in dem die Bräuche seiner Ureinwohner nicht nur überdauert haben, sondern bis heute gelebt werden.
Gassenlabyrinth, Kolonialbauten und Silber in Taxco
Im Bus geht’s weiter in den Nachbarbundesstaat Guerrero. Nach zwei Stunden Fahrt eröffnet sich eine spektakuläre Aussicht auf Taxco, zweites Ziel meines Mexiko-Erkundungstrips: Die weiß-roten Häuser der weltberühmten Silberstadt überwuchern einen steilen Berghang der Sierra Madre del Sur. Neben prächtigen Kolonialbauten wie der opulenten Barockkirche Santa Prisca locken vor allem die vielen Silbergeschäfte Touristen an. Verwinkelte Gassen mit Treppen und blumengeschmückte Häuserfassaden sorgen für das besondere Flair. Die 52.000 Einwohner zählende Kolonialstadt auf 1800 Höhenmetern gilt als eine der reizvollsten Mexikos und steht unter Denkmalschutz.
Jahrhundertelang wurde Silber in gro-ßem Stil abgebaut, was Taxco viel Reichtum brachte. Vor ca. 100 Jahren verhalfen talentierte Silberschmiede der Stadt mit ihren Schmuckarbeiten zu weltweitem Ansehen, allen voran der US-Künstler William Spratling. An der malerischen Plaza Borda, zugleich Ruhepunkt des Gassen-Labyrinths, reiht sich ein Silbergeschäft ans andere. Schmuck, Besteck, versilberte Totenschädel und religiöse Symbole – Verkäufer Juan, 28 Jahre, präsentiert mir alles auf dem Silbertablett. Er vertraut mir wenig Positives an: »Wir müssen das Silber jetzt aus Guanajuato holen, da die Spanier unsere Minen geplündert haben.« Und weiter: »Die Fördergelder aus dem Programm ›Pueblos Mágicos‹ landen nicht bei uns, sondern in den Taschen der Regierung.«
Taxcos Herz schlug lange im Takt der versiegenden und neuentdeckten Silberadern, wovon die vielen Museen erzählen. Nach meiner Museumstour fahre ich im Minibus über die holprigen Gassen nach oben zur Christus-Statue auf dem Atachi-Berg. Während ich so richtig durchgeschüttelt werde, zähle ich im Geiste die blauen Flecken an meinem Körper. Der atemberaubende (Silber)Blick auf die Stadt inmitten der schroffen Gebirgswelt der Sierra Madre zieht mich sofort in seinen Bann – ich spüre die Essenz des »México Mágico«.
Traumstrand, Surfer und Dschungeltrips rund um Sayulita
Das letzte Ziel meiner Suche nach der wahren Seele Mexikos ist der 5000-Einwohner-Pazifikort Sayulita. Nach eineinhalb Flugstunden wähne ich mich im Paradies: eine malerische Bucht, von Kokospalmen gesäumte Traumstrände und mit tropischem Urwald bewachsene Berge der Sierra Madre Occidental, die steil in den tiefblauen Pazifik abfallen. Surfer reiten auf den hohen Wellen, auch Brad Pitt ist mitunter mal dabei. Im Dorf erzählt man sich vom Gott Oz, der vor 5000 Jahren einen Ort mit perfekten Wellen schuf: Sayulita war geboren.
Das beschauliche Fischerdorf in einer der touristisch vielversprechendsten Regionen Mexikos, dem Küstenstreifen Riviera Nayarit, ist noch nicht vom Massentourismus überlaufen. Cafés, Kunstgalerien und Souvenirläden mit der bunten Handwerkskunst der Huichol-Indianer schmücken die Gassen des kleinen, aber quirligen Badeorts.
Reiseleiter David, 40 Jahre, nimmt mich mit auf einen Dschungeltrip in die archäologische Zone Altavista mitten im Urwald. Er verspricht, mich an den »magischsten Winkel der Riviera Nayarit, einen geheimnisvollen, kaum berührten Ort aus längst vergangener Zeit« zu führen. Plötzlich stehen wir vor mannshohen Steinen mit eingravierten Symbolen. David erklärt: »Über diese Petroglyphen kommunizierten die Tecoxquines, die Ureinwohner des Küstenstreifens, mit ihren Göttern und baten sie um Regen.« Noch heute pilgern Schamanen durch die Mango-, Maracuja- und Palmenwälder an diesen heiligen Ort voller mystischer Energie, um Kontakt mit den Göttern aufzunehmen.
Meine Reise durch Zeit und Raum lasse ich an einem der einsamen Strände um Sayulita ausklingen. Während ein leuchtender Sonnenuntergang den Strand in die intensivsten Rottöne taucht, erfüllen die Schreie der Pelikane und das Rauschen des Ozeans die Luft. Der feine Sand gleitet durch meine Zehen, tief atme ich die satte Meeresluft ein. Dann schließe ich die Augen, und sie ist wieder da – die Magie Mexikos, das Erbe der Götter, das sich aus der Vergangenheit ins Hier und Jetzt gerettet hat.

Prozession zu Pferde in Tepoztlán am mexikanischen Unabhängigkeitstag
© Sandra Weber

Ein Straßenverkäufer in Tepoztlán wartet auf Touristen.
© Sandra Weber

Flanieren, Shoppen, Essen auf der Calle Delfines in Sayulita – oder schnurstracks zum Strand
© Sandra Weber