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Reportagen

George Huntington: Auf der Spur von Chorea major

An Huntington Erkrankte verlieren die Kontrolle über ihre Muskulatur.

An Huntington Erkrankte verlieren die Kontrolle über ihre Muskulatur.

© Adobe Stock/Pixel-Shot

Bei der degenerativen Erkrankung des Nervensystems ist insbesondere das Striatum (Basalganglien) betroffen, dessen Neuronen unsere Koordination abwickeln.

Bei der degenerativen Erkrankung des Nervensystems ist insbesondere das Striatum (Basalganglien) betroffen, dessen Neuronen unsere Koordination abwickeln.

© iStock/image_jungle

Die nach dem New Yorker Arzt George Huntington benannte Erbkrankheit Chorea Huntington trifft das menschliche Gehirn mit großer Zerstörungskraft. Chorea major oder der große Veitstanz war zu Huntingtons Zeit zwar schon öfter gesehen, aber noch nie derart differenziert und einfühlsam beschrieben worden.

Bettina Rubow (Text)

Es gibt wohl kaum ein Symptom der Medizingeschichte, dessen Bedeutung so schillernd und vielfältig ist wie Chorea (griechisch für Tanz). Im Mittelalter bezeichnete Chorea oder Veitstanz einen wilden Tanz bis zur völligen Erschöpfung, heute vermutet man, dass hinter der verzweifelten Ausgelassenheit die damals grassierende Pest stand. 

Die irrsinnigen Tänze, die Platon erwähnte, sowie die „Tanzwut“ eines Paracelsus umfassen alle möglichen Arten religiöser Ekstase, aber auch von Rausch- und Vergiftungserscheinungen (etwa an Mutterkorn). Der englische Arzt Thomas Sydenham beschrieb im 17. Jahrhundert erstmalig die heutige Krankheit, brachte sie aber noch mit dem gesellschaftlichen Phänomen des Veitstanzes in Verbindung. George Huntingtons Beschreibung der Chorea hat bis heute Bestand, weil sie erstmalig den klar umrissenen Krankheitscharakter erkennt.

George Huntington wurde im Jahr 1850 in eine Arztfamilie hineingeboren und durfte bereits mit acht Jahren seinen Vater bei dessen Krankenbesuchen auf Long Island begleiten. Dabei hat er erste Fälle von Chorea gesehen, wie er Jahrzehnte später immer noch beeindruckt der New Yorker Neurological Society mitteilt: „Auf der Straße von East Hampton nach Amagansett begegneten uns zwei Frauen, Mutter und Tochter, beide groß und bis aufs Skelett abgemagert, beide mit verrenkten Gliedern und grimassierenden Bewegungen. Ich starrte sie verwundert und beinahe ängstlich an. Mein Vater sprach kurz mit ihnen und wir fuhren weiter. […] Das war die Initialzündung für meine medizinische Bildung. Von diesem Punkt an hat mich die Krankheit nie mehr ganz losgelassen.“ (1909)

Direkt nach seinem Studium der Medi-zin an der renommierten Columbia University in New York präsentierte er sein erstes Paper „On Chorea“, das am 13. April 1872 in einem Fachjournal der Zeit, dem „Medical and Surgical Reporter“ in Philadelphia, veröffentlicht wurde. Darin beschreibt er sehr genau die klonischen Krämpfe der willkürlichen Muskulatur, die für Chorea typisch sind und im Unterschied zur Epilepsie bei vollem Bewusstsein stattfinden. Gliedmaßen, Gesicht, ja die gesamte willkürliche Muskulatur hatte sich unabhängig gemacht.

Mehr Wohltäter als Wissenschaftler

Voller Mitgefühl für die Betroffenen beschreibt er den verzweifelten Willen zur koordinierten Bewegung und wie die immer wieder misslingt. Er benennt aber auch die psychischen Probleme, die mit der Krankheit einhergehen. Allein im Schlaf würden ihre Opfer manchmal etwas Ruhe finden. Es gibt nur wenige Augenblicke der Medizingeschichte, in denen eine Krankheit exakter und anschaulicher sowie mit so wenigen Worten beschrieben worden ist. (Sir William Osler, der Vater der modernen Medizin, 1893)

Huntingtons Aufsatz sollte sein einziger bleiben, aber er ergänzte seine Erkenntnisse um eine entscheidende Einsicht: der Erblichkeit von Chorea, die er auf Long Island über mehrere Generationen zurückverfolgen konnte. Außer dem Zungentest (der Aufforderung, die Zunge herauszustrecken und dort zehn Sekunden zu belassen, können die Kranken nicht nachkommen) zur Diagnose benennt er drei Besonderheiten: 1. die erbliche Natur, 2. eine Neigung zu Irrsinn und Suizid und 3. die Manifestation der Erkrankung nur im Erwachsenenalter. 

Allein dieses dritte Kriterium hat sich nicht bewahrheitet. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass sich auf seinem Manuskript über Chorea Anmerkungen des Vaters befinden, so dass man davon ausgehen kann, dass er und vielleicht auch der Großvater ihre eigenen Beob-achtungen bezüglich der Gehirnerkrankung beigetragen haben.

Huntingtons Bericht wurde noch im selben Jahr ins Deutsche übersetzt, mit der Folge, dass sein Name weltweit in Verbindung mit der Erkrankung gebracht wurde.