Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.

Luthers Widerrufsverweigerung steht bis heute als bedeutendes Beispiel für Zivilcourage und das Einstehen für die eigene Haltung. Die evangelische Kirche und die Stadt Worms erinnern an dieses Schlüsselereignis der Weltgeschichte in diesem Jahr mit zahlreichen Aktionen.
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Am 17. April wurde das Jubiläumsjahr eröffnet. Die Dreifaltigkeitskirche wurde um 23 Uhr zur größten Leinwand Europas. In einer Multimedia-Show inklusive Musik und Live-Schauspiel mit Größen wie Rufus Beck (im Bild) wurde unter dem Schlagwort „Wagemutig“ der Frage des Einflusses Luthers auf die heutige Zeit nachgegangen.
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Die Landesausstellung „Hier stehe ich. Gewissen und Protest – 1521 bis 2021“ im Museum der Stadt Worms im Andreasstift nimmt das Jubiläum der Widerrufsverweigerung zum Anlass, die Entwicklungsgeschichte der „Gewissensfreiheit und des Protests“ anhand zahlreicher Beispiele bis in unsere Gegenwart aufzuzeigen und kritisch zu hinterfragen.
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Das Luther-Denkmal in Worms wurde zu Ehren des Reformators Martin Luther von Ernst Rietschel geschaffen und am 25. Juni 1868 enthüllt. Neben dem internationalen Reformationsdenkmal in Genf gilt es als weltweit größtes Reformationsdenkmal.
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Auf der rheinland-pfälzischen Rheinseite ist der 53 m hohe, „Nibelungenturm“ genannte, neuromanische Brückenturm der „alten“ Wormser Rheinbrücke (Nibelungenbrücke) erhalten - ein monumentaler Turm im „Nibelungenstil“ und repräsentativer Eingang zur Stadt Worms.
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Dieses Jahr jährt sich Martin Luthers berühmte Widerrufsverweigerung zum 500. Mal. Die „Nibelungen-Festspiele“ zeigen die Uraufführung „Luther“ von Lukas Bärfuss am Originalschauplatz vor dem Wormser Dom. Der preisgekrönte Bühnen-Autor über seine Annäherung an den Reformator
Frauke Gans (Text)
Wenn der Schriftsteller und Bühnenautor Lukas Bärfuss sich bereit erklärt, über ein Thema zu schreiben, ist das wie ein Ausflug in den Vergnügungspark deutscher Sprache. Davon kann man sich beispielsweise in seinen Büchern „Hundert Tage“ oder „Koala“ überzeugen. Aber für den Emotionshaushalt wird es oft ungemütlich. Der 49-jährige Schweizer eröffnet gerne Blickwinkel, vor denen man lieber die Augen verschließt. Wofür er immer wieder angefeindet wird, aber u.a. den „Georg-Büchner-Preis“ gewann.
Die Organisatoren der „Nibelungen-Festspiele“ haben den Autor gebeten, ein Theaterstück über den Mönch zu schreiben. Was darauf schließen lässt, dass sie sich keine Biografie wünschen, sondern eine Spurensuche mit neuen Denkansätzen. Vor dem Kaiserdom in Worms findet am 16. Juli die Uraufführung des Bühnenwerks statt, Regie führt die Ungarin Ildikó Gáspár.
Herr Bärfuss, Ihr Theaterstück heißt schlicht „Luther“. Der Inhalt scheint damit offensichtlich. Mit Blick auf Ihre bisherigen Werke erwarten Zuschauer aber vermutlich eine überraschende Darstellung. Wie stehen Sie denn persönlich zur Figur Luther?
Sehr ambivalent. Er war ein Mensch mit großen Fähigkeiten und noch größeren Abgründen. Hochbegabt und hochproblematisch. Ein Mann, der eines Tages begriff, welche Macht er besaß. Mitten in einer medial technologischen Revolution. Und ein Mensch, der Zeit seines Lebens von dem Gedanken gepeinigt war, dass der Teufel persönlich ihn holen könnte. Das hat seine Weltsicht geprägt.
Die Reformation, die er wesentlich angeschoben hat, war natürlich auch einer gesellschaftlichen, politischen Situation geschuldet. Aber wer ihn liest, versteht, dass hier ein Mann seinen eigenen Fall zum Fall der Welt gemacht hat. Und seine erste Frage war: Wie verhindere ich, dass ich in die Hölle komme?
Aber laut der katholischen Kirche hätte er sich doch freikaufen können?
Das Angebot der Beichte und der Buße hat bei ihm nicht funktioniert. Er wurde die Angst nicht los. Er hat den Glauben an diese Heilsprozeduren verloren. Das hat ihn an den Rand der psychischen Zerrüttung gebracht.
Das heißt, sein eigentlicher Antrieb im Kampf gegen die katholische Kirche entspringt aus der puren Angst um seine eigene Seele?
Nicht alleine, aber sie war gewiss der wichtigste Antrieb. Er glaubte an die Wirklichkeit des Teufels und der Hölle, und seine Bestimmung war, den Menschen zu beweisen, dass die Kirche keinen Schutz davor liefert. Er war ein Überzeugungstäter. Seine Radikalität, seine Wut, seine Kompromisslosigkeit machten ihn gefährlich. Luther hat viel zerstört. Wenn jemals in der Menschheitsgeschichte die Büchse der Pandora geöffnet wurde, dann sicher damals in Wittenberg. Durch das Schisma wurde ein ungeheures Gewaltpotential freigesetzt. Die konfessionellen Kriege haben wir bis heute nicht mehr überwunden. Auf der anderen Seite hat Luther die moderne Persönlichkeit erfunden. Die individuelle Verantwortung, die Identität, das Bewusstsein für die Einzigartigkeit: Das alles gehört heute zur intellektuellen Grundausrüstung.

Lukas Bärfuss ist der Verfasser des neuen Theaterstücks für die diesjährigen „Nibelungen-Festspiele“.
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Der Dom St. Peter zu Worms, erbaut zwischen 1130 und 1181, ist der kleinste der drei rheinischen Kaiserdome.
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Die begehbare Bronzeskulptur „Die Großen Schuhe Luthers“ des Künstlerpaares Constanze und Norbert Illig im Wormser Heylshofpark soll Raum für eigene Gedanken und Inszenierungen geben.
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Die Geschichte um Luther ist so komplex. Wie bringen Sie alle Aspekte in einem Theaterstück unter?
Das ist eine unmögliche Aufgabe. Ganz ausgeschlossen. Genau deswegen versuche ich es trotzdem. Es bedeutet ausgiebige Recherche. Man kann den Protestanten viel vorwerfen, aber faul waren sie bestimmt nicht. Sie haben sehr viel geschrieben. Dazu kann ich die Inhalte an meiner eigenen Geschichte spiegeln. Ich komme aus einem Rückzugsgebiet vor der Reformation, aus dem Berner Oberland. Man nennt es auch den schweizerischen Bible Belt. Da gibt es viele verschiedene Konfessionen und Sekten. Luther und sein schweizerisches Pendant Zwingli waren das Feindbild. Die protestantische Staatskirche hat die Berner Oberländer unterdrückt. Die Täufer wurden umgebracht und aus dem Emmental vertrieben. Für mich waren Luther und Zwingli keine freundlichen Herren.
Dabei hat die Reformation die katholische Kirche auch nicht zum Umdenken bewegen können. Arbeitete sie nicht genauso weiter wie zuvor, bis heute?
Es gibt immer noch das kanonische Recht, die Sakramente, die Unfehlbarkeit des Papstes, den römischen Absolutismus, den Zölibat. Doch was wir heute unter der katholischen Kirche verstehen, ist mehrheitlich ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Die Kirche der Renaissance war nicht zuerst eine spirituelle, sondern eine politische Organisation. Die Päpste damals waren territoriale Fürsten. In der Wende zum 16. Jahrhundert erfolgte ein großer Modernisierungsschub.
Die Entdeckung Amerikas, der Seeweg nach Indien, der Gewürz- und Goldhandel, das Bankenwesen, die Macht der Fugger, neue Finanzinstrumente, die Derivate: Die Kirche war auf Seiten der Moderne. Die Reformation war auch ein Versuch, diese Moderne aufzuhalten. Luther und seine Verbündeten haben versucht, der Globalisierung die Nationalisierung entgegenzusetzen. Es ist erstaunlich, zu sehen, wie der deutsche Geist und das deutsche Territorium immer wieder in Abgrenzung gegen die römische Kirche instrumentalisiert wurden. Luther war in diesem Sinne ein Reaktionär.
Auch in Bezug auf Frauen. Mit aktuellen Bewegungen wie #metoo hätte Luther damals durch seine misogynen Ansichten wohl den gleichen Gegenwind erhalten wie Trump. Wie gehen Sie im Theaterstück damit um?
Ich will nicht zu viel verraten, aber im Zentrum meines Stückes steht eine Frau. Es war nicht einfach, die Frauen in dieser Historie zu finden. Es gibt kaum Dokumente, kaum Quellen. Und eine erfinden, das wollte ich nicht. Deshalb musste ich lange suchen. Und die Suche hat sich sehr gelohnt, wie ich finde.
Sie müssen tatsächlich wahnsinnig lange und tief gegraben haben …
Ich wollte als Kind sowieso immer Archäologe werden. Und in meinem Stück geht es um Stoff aus dem Jahre 1521, aber er hat mit uns Zeitgenossen viel zu tun. Wie weit dürfen wir die gesellschaftliche Spaltung treiben, um eine notwendige Veränderung zu erreichen? Was machen eine mediale Revolution, religiöse Diskurse und die politische Theologie mit einer Gesellschaft? Und dann gibt es noch die Frage nach der Radikalisierung der Sprache.
Luther hat einen wesentlichen Teil der deutschen Sprache erfunden. Aber er hat sich auch radikalisiert und Brücken vorsätzlich in Brand gesteckt. Das ist so furchtbar aktuell, dass ich mich manchmal fast davor verstecken möchte. Wie kann man glauben, dass Lügen nicht zu Wut und Wut nicht zu Hass und Hass nicht zu Gewalt führen kann?
Wobei Lügen alleine eine solche Entwicklung eher nicht auslösen. Geht es nicht meist um Menschen, die sich finanziell abgehängt fühlen?
Das ist eine weitere Parallele: die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit, nach dem Reichtum, nach der ständigen Diskriminierung bestimmter sozialer Gruppen. Die politische Instrumentalisierung dieser Ungerechtigkeiten, die ein Mensch wie Donald Trump einsetzt, aber nicht erfunden hat.
Werden Sie in Ihrem Theaterstück diese Parallelen ziehen?
Nur schlechte Dramatiker ziehen Parallelen. Die Parallelen werden beim Zuschauer im Kopf gezogen.