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Reportagen

Der Reiz von Stille und Harmonie

Das Bergsteigerdorf Sachrang wird umrahmt von den Bergen Geigelstein und Spitzstein und bietet einen wunderschönen Blick auf den Zahmen Kaiser in Tirol.

Das Bergsteigerdorf Sachrang wird umrahmt von den Bergen Geigelstein und Spitzstein und bietet einen wunderschönen Blick auf den Zahmen Kaiser in Tirol.

© Tourist Info Aschau i. Chiemgau

Das Blaueiskar bei Ramsau ist voll von alpinen Mehrseillängen für jedes Kletterniveau und jede Nervenstärke, aber auch Sportkletterer und vor allem Boulderer kommen im Blaueis voll auf ihre Kosten.

Das Blaueiskar bei Ramsau ist voll von alpinen Mehrseillängen für jedes Kletterniveau und jede Nervenstärke, aber auch Sportkletterer und vor allem Boulderer kommen im Blaueis voll auf ihre Kosten.

© DAV/Wolfgang Ehn

Wanderer im Blaueiskar

Wanderer im Blaueiskar

© DAV/Wolfgang Ehn

„Früh übt sich, was ein Meister werden will“. Dieses geflügelte Wort von Friedrich von Schiller gilt auch für Nachwuchs-Volkstänzer aus Schleching.

„Früh übt sich, was ein Meister werden will“. Dieses geflügelte Wort von Friedrich von Schiller gilt auch für Nachwuchs-Volkstänzer aus Schleching.

© Touristik Information Schleching

Naturkäserei Kreuth

Naturkäserei Kreuth

© Der Tegernsee/Dietmar Denger

Bergsteigerdorf sein bedeutet: alpiner Charakter, ursprüngliches Ortsbild, archaischer Charme. Es bedeutet zudem Regeneration, Naturbelassenheit und Erdung – fernab von Remmidemmi und Gondelbahnen.

Dr. Georg Bayerle (Text und Bilder)

Es sind besondere Erfahrungen, die wir in diesen Monaten der Corona-Beschränkungen gemacht haben. Unfreiwillig zwar, aber ebenso unausweichlich. Einsamkeit und Stille gehören dazu, die Entdeckung unbekannter Plätze vor der eigenen Haustür, der Wert der Nähe zur Natur und zu Menschen. Massentourismus und Massentierhaltung werden infrage gestellt. Und es gibt ein touristisches Alternativmodell in den Alpen: die so genannten „Bergsteigerdörfer“.

Wo Natur einfach Natur sein darf

Donnerstag auf dem „Simmerlhof“ über Sachrang im Chiemgau: Zur Kräuterwürze der Bergwiesen in der Luft gesellt sich das süße Aroma von frischem Brot. Es ist ein olfaktorisches Ereignis von purem Leben. Am wöchentlichen „Gästebacktag“ auf dem Hof von Monika Pfaffinger sind wie so oft auch Ferienkinder mit dabei, die zum ersten Mal Brotteig geknetet und in die traditionellen Korbformen gedrückt haben. Als hätte die Bergbäuerin mit ihren eigenen Kindern, eigener Alm und Milchvieh sowie drei Ferienwohnungen nicht genug zu tun! 

Aber Monika Pfaffinger lebt mit ihrer Familie die jahrhundertealte Tradition auf dem Bergbauernhof mit Leib und Seele und freut sich, wenn Gäste daran teilnehmen. Und wenn die Fami-lie mit den Kindern in Tracht zum Schuhplattln geht, dann ist es weder Touristenfolklore noch verstaubtes Brauchtum. Die Bergbauernkultur, wie sie sie lebt, bedeutet: gesunde Ernährung, Bewegung in der natürlichen alpinen Umwelt, Gemeinschaftsgefühl und nachhaltige Bewirtschaftung, die die gewachsene Kulturlandschaft in ihrer ganzen Schönheit auch für die eigenen Kinder und Enkel erhält. 

Vom Bauernhof über dem Tal reicht der Blick hinüber zum Geigelstein, wo die Alm liegt. In der ersten Hochphase des Massentourismus Ende der 1960er und in den 1970er Jahren sollte auch der berühmte „Blumenberg des Chiemgaus“ von der anderen Seite, von Schleching her, mit Liften erschlossen werden. In hitzigen Versammlungen sind damals auch mal Gegner der Lifterschließung aus dem Saal geworfen worden. Weil viele in Schleching aber genauso dachten wie die Talnachbarn in Sachrang, wurden die Pläne schließlich verworfen und der Geigelstein zum Naturschutzgebiet. Der Schlechinger Bürgermeister Josef Loferer, selbst ein Bergbauer, betrachtet es deshalb als folgerichtige Entwicklung, dass die beiden Chiemgauer Orte 2017 in den kleinen, aber feinen Kreis der „Bergsteigerdörfer“ aufge-nommen wurden.

„Kommen Sie zu uns, wir haben nichts!“

(Werbeslogan des Bergsteigerdorfs Villgraten in Osttirol)

 

Gegründet wurden die „Bergsteigerdörfer“ 2008 auf eine Initiative des österreichischen Lebensministeriums hin vom Österreichischen Alpenverein. Die Idee war es, dem immer weiter ausgreifenden Massentourismus in hocherschlossenen Gebieten ein touristisches Gegenmodell an die Seite zu stellen und jene Orte auf der touristischen Landkarte bemerkbar zu machen, die vom lauten Marketing der großen Seilbahnen, Hotels und Tourismusorte immer übertönt werden. Eines der Gründungsmitglieder der „Bergsteigerdörfer“, das Villgratental in Osttirol, setzte gleich den Kontrapunkt mit dem Slogan: „Kommen Sie zu uns, wir haben nichts!“ Nichts, außer der intakten Natur und Umwelt, Stille und Ruhe. Seither hat die Zahl der Gäste zugenommen, langsamer als in den touristischen Zentren, aber eben auch weitaus natur- und sozialverträglicher. 

Die Dichte an Bergbauernhöfen ist alpenweit herausragend, die Unberührtheit der Villgrater Berge mit ihrem Gipfelblick in die Dolomiten unter Bergurlaubern legendär. Heimische Betriebe wie ein Schafwollproduzent, ein Lodenmacher und ein Kunstschmid haben sich zu den „Villgrater Kraftwerken“ zusammengeschlossen. Sie unterstützen und inspirieren sich gegenseitig mit der handwerklich hochwertigen Produktion lokaler Erzeugnisse. Das führende Hotel ist der „Gannerhof“, entstanden aus einem alten Bergbauernhof mit zwei weiteren hierher versetzten alten Gebäuden. Der frühere Inhaber gehörte zu den Hauptinitiatoren, die sich hier genauso wie in Schleching gegen eine Lifterschließung des Tals gewehrt haben. 

Wie in den einst autarken Bergbauerndörfern früherer Zeiten soll in den „Bergsteigerdörfern“ ein Rädchen ins andere greifen: die Erzeugung hochwertiger natürlicher Produkte ohne Raubbau an der Natur zu betreiben. Keine Großbetriebe, keine gro-ßen technischen Anlagen, sondern alles in Dimensionen, die aus sich heraus und im regionalen Netzwerk funktionsfähig sind. Nachhaltig und resilient, um zwei Modeworte zu gebrauchen, die kaum irgendwo so zutreffen wie in den „Bergsteigerdörfern“ und die vom selbstgebackenen Brot in Sachrang bis zu den Schafwollbetten im „Gannerhof“ hautnah erlebt werden können. Die Stille, die Ruhe und das Gefühl, als Gast auch als Mensch individuell wahrgenommen zu werden, gibt es obendrein. Es ist eine kleine, unaufgeregte Erfolgsgeschichte, die sich hier abgespielt hat. 2015 wurde das Konzept in Ramsau im Berchtesgadener Land auch nach Deutschland übertragen. Seither sind auch „Bergsteigerdörfer“ in Südtirol und Slowenien dazugekommen. 30 gibt es davon heute insgesamt, denen man schon äußerlich das mit der Landschaft harmonisch gewachsene Dorfbild ansieht.

Gesunde Balance

Die Berge gehören natürlich dazu, auch wenn es oft wie in den bayerischen Fällen von Schleching, Sachrang und Kreuth am Tegernsee eher voralpine Gipfel für Wanderer sind. Hier hat natürlich Ramsau mit dem Watzmann und dem Nationalpark Berchtesgaden eine besondere Stellung inne. Das Bild der Dorfkirche an der Ramsauer Ache mit den bleckenden Kalkwänden der Reiter Alpe im Hintergrund zählt zu Bayerns bekanntesten Postkartenmotiven, und dennoch ist die Bevölkerung so natürlich heimatverbunden und echt geblieben wie in vortouristischen Zeiten. 

Auf dem Friedhof neben der Kirche ruht der „Kederbacher“, der nach seinem Berghof „Kederbacher-Lehen“ benannte spätere Bergführer und Erstbesteiger der legendären Watzmann-Ostwand. Sein Urenkel Franz Kuchelbauer bewirtschaftet den Hof heute und züchtet alte alpine Tierrassen – fast wie auf einer Arche Noah der Berge: Kärntner Brillenschafe sind dabei und Walliser Schwarznasen, dazu noch schwarze Alpenschweine. Hauptabnehmer ist ein Hotelier im Ort, und so schließt sich wieder ein Kreis von der Bergbauerntradition des Kederbacher und den alten alpinen Nutztieren bis zur Almwirtschaft und der Pflege jener Landschaft, die die Touristen besonders schätzen.

Auf Schwankungen im Tourismusgeschäft reagieren diese Orte unaufgeregter, denn hier ist es noch nie um den schnellen Euro oder Gewinnmaximierung gegangen, hier müssen keine aufgeblähten touristischen Strukturen und Großinvestitionen mit dauernder Besuchermasse gefüttert werden. Vielmehr geht es um eine gesunde Balance des lokalen Wirtschaftens in intakter Umwelt und Lebensqualität für die Einheimischen wie für die Gäste. Mithelfen bei der Heuernte, Wildtierbeobachtungen, Brotbacken oder Kräuterwanderungen statt der hochgejazzten Adrenalin- und Abenteuerrhetorik der konventionellen Tourismusorte. 

Dass dieses Modell in den vergangenen Jahren immer stärker wahrgenommen wird und sich weiter verbreitet, liegt auch daran, dass die „Bergsteigerdörfer“ mit ihrer gewachsenen Kultur und der intakten Natur etwas zu bieten haben, das immer seltener wird in den Alpen und im Tourismus insgesamt. Es ist wahrscheinlich, dass die schwierigen Erfahrungen der Corona-Krise diesen Trend verstärken durch eine Rückbesinnung zum Echten und ein neues Zurück-zur-Natur-Bedürfnis. Hier haben sie Antworten parat auf diese grundlegenden Fragen, die jetzt plötzlich für viele akut geworden sind.