Der Blick nach innen

Lithografie von Jakob Wilhelm Christian Roux, erschienen in dem Buch „Tabulae arteriarum corporis humani“ des deutschen Biologen und Anatomen Friedrich Tiedemann
© Ars Anatomica/Wellcome Collection

Surreal anmutendes Mezzotinto zweier sezierter Köpfe, einer mit geöffneter Kopfschwarte, gezeichnet nach tatsächlichen Sektionen. Es stammt von Jacques-Fabien Gautier d’Agoty, dem Illustrator von Joseph Guichard Duverneys „Anatomie de la tête“ (1748.)
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Das Plakat, eine Farblithografie, das die weiblichen Genitalorgane vor, während und nach der Schwangerschaft zeigt, wurde von O. Gríùn um 1925 in der ehemaligen Sowjetunion gezeichnet.
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Der Bildband „Ars Anatomica“ vereint einige der bemerkenswertesten, faszinierendsten und seltsamsten Kunstwerke des 16. bis 20. Jahrhunderts zur Darstellung der menschlichen Anatomie.
In der Renaissance wurde das Studium des menschlichen Körpers zur Wissenschaft erhoben, auch im künstlerischen Sinn. Die ersten anatomischen Atlanten, wie zum Beispiel Andreas Vesalius’ „De humani corporis fabrica libri septem“ (Sieben Bücher über den Aufbau des menschlichen Körpers) von 1543, waren groß angelegte, aufwendige Produktionen, bei denen neue Druckverfahren zum Einsatz kamen, um naturgetreue Illustrationen zu verbreiten, die auf direkter Beobachtung beruhten. Diese Darstellungen waren zugleich künstlerische Meisterwerke. Die Faszination für die Geheimnisse des Körpers inspirierte Wissenschaftler, Künstler und Laien gleichermaßen. Nicht nur Anatomen wie Vesalius, sondern auch große Künstler wie Leonardo da Vinci, Michelangelo und Raffael führten ihre eigenen Sektionen am menschlichen Körper durch. Die Quelle der meisten anatomischen Erkenntnisse war die systematische Obduktion von Leichen, in der Regel die von hingerichteten Kriminellen, Armen und Schwachen.
Künstlerische Verklärung des Studiums der Anatomie
Diese dunkle, schmutzige und gesetzeswidrige Realität, die sich hinter dem Studium der Anatomie verbarg und lange Zeit mit Tabus belegt war, wurde von den Illustratoren oft verschleiert – oder in hohem Maße ästhetisch verklärt. Man bediente sich vertrauter Metaphern und künstlerischer Ausdrucksweisen, um diese Darstellungen zugänglicher und weniger abstoßend für die breite Öffentlichkeit zu machen.
Die Vorstellung, dass der menschliche Körper hauptsächlich aus Materie besteht und mechanischen Funktionen unterliegt, ist recht neu. In der Menschheitsgeschichte hatte der Leib meist einen besonderen Stellenwert, er war religiös und symbolisch bedeutsam und wurde nach dem Tod mit Riten und Ritualen gefeiert. Viele Jahrhunderte lang galt der Körper sowohl im Westen mit seinen Körpersäften als auch im Osten in Verbindung mit der traditionellen chinesischen Medizin als Mikrokosmos der Welt, der Elemente und des Universums.
In einigen Weltanschauungen hingen die Organe des Körpers mit verschiedenen Konstellationen und astrologischen Zeichen zusammen; in anderen war der Körper die Heimat von energetischen Zentren, die, wenn sie richtig kultiviert wurden, zur Erleuchtung führen konnten. Für wieder andere bot der Leib die Möglichkeit, den Geist Gottes durch das zu verstehen, was nicht nur sein größtes Werk war, sondern auch nach seinem eigenen Bild geschaffen wurde. Die Leiche, das Skelett und das Ecorché (bezeichnet in der Kunst gehäutete Figuren, bei denen die Muskeln und Knochen zu sehen sind) waren häufige Themen der bildenden und populären Kunst, lange bevor es ein Interesse an genauen Darstellungen der menschlichen Anatomie gab. Noch bis ins 19. Jahrhundert orientierten sich Illustratoren der Anatomie routinemäßig an den Metaphern und der Ikonografie dieser Traditionen. Die Grenze zwischen Wissenschaft, Kunst und Metaphysik war mitunter recht verschwommen, da Memento-mori-Darstellungen, der Danse macabre und gehäutete Satyrn nahtlos mit wissenschaftlich exakten, lehrreichen Darstellungen des Körpers verschmolzen.

Handgemalte Illustration, auf der ein gut gekleideter Mann eine Leiche seziert. Sie wurde in Guido da Vigevanos „Anothomia Philippi septimi“ (1345) gezeigt. Da Vigevano war italienischer Arzt und Wegbereiter in der Verwendung von Anatomie-Zeichnungen zur Illustration von Texten.
© Ars Anatomica/Wellcome Collection

Darstellung der männlichen Muskulatur aus John Brownes „Eine vollständige Abhandlung über die Muskeln: wie sie im menschlichen Körper erscheinen und beim Sezieren zum Vorschein kommen; mit noch nie zuvor entdeckten diversen anatomischen Beobachtungen“ von 1681
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Teil eines Stichs des niederländischen Künstlers Jan Wandelaar, der eine idealisierte Ecorché-Figur zeigt; entnommen aus den prächtigen „Tabulae sceleti et musculorum corporis humani“ (1747)
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Beliebtes Vorbild in der aktuellen Populärkultur
Die meisten Bilder in „Ars Anatomica“ entstanden in der westlichen Welt, die jahrhundertelang von der christlichen Vorstellung geprägt wurde, dass der menschliche Körper Gottes Meisterwerk, geschaffen nach seinem eigenen Bildnis, und ein Mikrokosmos des Universums sei. „Ich habe anatomische Illustrationen immer als Kunstwerke gesehen, die sich – bewusst oder unbewusst – mit unseren Versuchen befassen, mit der Tragödie und dem Wunder, in einem Körper geboren zu werden, und der Gewissheit unseres eigenen Todes zurechtzukommen. Das relativiert unsere aktuelle wissenschaftliche Medizin und zeigt, dass es sich lediglich um die neueste einer sehr langen Serie von Strategien handelt, die das Ziel verfolgen, den Tod zu überlisten, Krankheiten zu heilen und Leiden zu lindern“, erklärt Autorin Joanna Ebenstein in ihrer Einleitung des Buches. Die von ihr ausgewählten Motive zeichnen sich durch eine reiche Lebendigkeit, Schönheit und Ausdrucksvielfalt aus. „Ich habe die Bilder in diesem Buch aufgrund ihrer ästhetischen und ausdrucksstarken Merkmale ausgewählt, weil ich sie für die fesselndsten, schönsten, bizarrsten oder verwirrendsten ihrer Art halte.“
Die sehr detailreiche – und bisweilen auch sogar abstoßende – Anatomie-Zeichnung fasziniert nach wie vor ein großes Publikum, und in der aktuellen Populärkultur wird nicht selten auf die historische Zeichnung zurückgegriffen: Man denke an Tattoo-Kunst, Schmuckdesign oder die Gestaltung von Cover-Designs in der Musikbranche. Dieser hochwertig erstellte, reichhaltig illustrierte Band vereint anatomische Zeichnungen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert und dokumentiert auf diese Weise den jeweilig aktuellen Stand der Medizinforschung. Darüber hinaus bietet diese Anthologie einen pointierten Ausschnitt aus der Kunstgeschichte: die Darstellung der menschlichen Anatomie in der Kunst.
Aus „Ars Anatomica“, Text © 2020 Joanna Ebenstein

Undatiertes Bild eines meditierenden Mannes, das eine Herangehensweise an die Anatomie des Körpers zeigt, die im Hinduismus und im tantrischen Buddhismus usus war: Sie zeigt Chakren als Zentren der spirituellen Kraft im Körper und Kundalini (Schlange) als latente weibliche Energie, von der angenommen wird, dass sie an der Basis der Wirbelsäule ruht.
© Ars Anatomica/Wellcome Collection

Dieses Aquarell, das die Rückseite eines sezierten Herzens darstellt, wurde von einem unbekannten Künstler geschaffen, wahrscheinlich im 19. Jh.
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Illustration (Farblithografie; um 1861) zu Werken des deutschen Augenarztes Richard Liebreich. Sie zeigt das Auge durch ein Ophthalmoskop, ein Instrument, das die innere Rückseite des Augapfels sichtbar macht. Liebreich galt hinsichtlich der Verwendung dieses Geräts als Pionier.
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