Newsletter

Reportagen

Das zerrissene Bandoneon

Piazzolla entwickelte den Tango weiter und assimilierte für diesen Zweck höchst unterschiedliche Einflüsse. So hört man in seinen Stücken sowohl Elemente der Klassik als auch der argentinischen Folklore, der Neuen Musik und Ingredienzen des Jazz. Selbst Pop und Rock klingen zuweilen diskret durch.

© @travelbuenosaires

Der Tango ist Ausdruck von Leidenschaft, Melancholie und Schmerz. Und Buenos Aires gilt als die Geburtsstadt des Tangos.

© @travelbuenosaires

Die Tangokompositionen Piazzollas galten anfangs als nicht tanzbar, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne.

© @travelbuenosaires

Das Bandoneon ist untrennbar mit dem argentinischen Tango verbunden. Die Wurzeln des Instruments liegen allerdings in Deutschland und reichen über 150 Jahre zurück. Die ersten Bandoneons baute, bereits 1849, der Instrumentenbauer Carl Zimmermann aus Carlsfeld im Erzgebirge.

© @travelbuenosaires

Tango-Denkmal an der Costanera Sur in Buenos Aires

© @travelbuenosaires

Auch im legendären Opernhaus von Buenos Aires, dem Teatro Colón, in dem der Meister seine größten Triumphe feierte, wird im Jubiläumsjahr mit diversen Konzerten seiner gedacht

© Adobe Stock/Leonid Andronov

Zum 100. Geburtstag des Tango-Revolutionärs Astor Piazzolla

Robert Quitta (Text) 

Am 11. März dieses Jahres wäre der Tango-Revolutionär Astor Piazzolla 100 Jahre alt geworden. Zu diesem Jubiläum, dem „Centenario“, finden in seiner Heimat Argentinien ihm zu Ehren große Feierlichkeiten statt: rund um seinen Geburtstag eine siebentägige Konzertreihe im legendären Teatro Colón, eine riesige, gigantische, ambitionierte Ausstellung im Centro Cultural Kirchner in Buenos Aires sowie weitere Aufführungen, vor allem seines symphonischen Werkes und seiner Filmmusiken. Aber auch andere Orte in Argentinien, wie seine Geburtsstadt Mar del Plata, planen Hommagen an ihn. Denn heute ist Astor Piazzolla in Argentinien ein Nationalheld und Gegenstand des blau-weißen Nationalstolzes, fast wie Maradona oder Messi. Das war aber nicht immer so ...

Als der von ihm erfundene „Tango Nuevo“ nämlich noch neu war, wurde Piazzolla von seinen Landsleuten heftigst angefeindet, galt als Nestbeschmutzer, Zerstörer der Tradition, ja fast als Staatsfeind. „Das ist doch kein Tango!“, sagten die Argentinier. „Dazu kann man doch nicht tanzen, dazu kann man doch nicht schmusen, das kann man doch nicht im Autoradio hören …“

”Ich bin ein Tango-Mann, aber meine Musik gibt zu denken. Denen, die den Tango lieben und denen, die gute Musik mögen."

(Astor Piazolla)

„In Argentinien darf man alles ändern“, beklagte sich Piazzolla einmal bitter, „alles, außer dem Tango. Der Tango ist wie eine Religion, ja wie eine Sekte!“ Das Blatt wendete sich erst langsam, nachdem in den 1980er Jahren sein Welterfolg, vom Ausland ausgehend, auch über Argentinien hereingebrochen war. Dieser Welterfolg, und überhaupt der Erfolg, kam allerdings erst spät, sehr spät, nach vielen Mühen und Kämpfen.

Astor Piazzolla wurde am 11. Februar 1921 in Mar del Plata geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in New York, wo er schon sehr früh Unterricht in Klavier und Bandoneon erhielt. Als 14-Jähriger taucht er sogar schon kurz (als Zeitungsjunge) in einem Film des Tango-Gottes Carlos Gardel auf. Nachdem seine Familie 1937 nach Buenos Aires gezogen war, konnte er sich dort rasch als Bandoneon-Spieler und Arrangeur im Kreis der Tangomusiker etablieren und leitete schließlich von 1944 bis 1949 ein eigenes Tango-Orchester. 

Die Geburtsstunde des Tango Nuevo

Der Tango galt in Argentinien damals noch als „schmutzige“ Kunstform („Das war Bordell! Das war Unterwelt!“), und Piazzolla genierte sich sogar, mit dem Bandoneon, das ja nur ein „niedriges“ Instrument war, zur Arbeit zu gehen. Also beschäftigte er sich auch mit klassischer Musik und fing an, beim argentinischen Komponisten Alberto Ginastera zu studieren.

Wirklich änderte sich sein Leben aber erst, als er ein Stipendium für ein Studium bei Nadia Boulanger in Paris erhielt. Dieser Avantgarde-Musik-Päpstin spielte er etliche seiner klassisch-modernen Stücke vor (mit Einflüssen von Ravel, Bartok, Stravinsky, etc.), die sie aber nicht sonderlich begeisterten. Erst als er, von ihr aufgefordert, wider-willig eine Tango-Komposition spielte, fiel der Groschen. „Du Idiot!“  soll sie, einer berühmten Anekdote zufolge, ausgerufen haben, „Merkst du nicht, dass dies der echte Piazzolla ist, nicht jener andere? Du kannst die gesamte andere Musik wegwerfen!“  Und somit kann man diesen Moment als die Geburtsstunde des Tango Nuevo bezeichnen, jener Mischung aus Tango, Jazzelementen und Kunstmusik, deren Entwicklung sich Piazzolla fortan widmete.

Der Durchbruch kam aus Paris nach Buenos Aires

Zurück in Buenos Aires, gründete er zuerst ein Oktett und dann ein Quintett (das seine ideale Formation wurde) und fing an, wie wild zu komponieren. Und er komponierte auch unbeirrt weiter, als es bei den ersten öffentlichen Aufführungen zu Tumulten kam und er und seine Familie sich kaum mehr auf die Straße wagen konnten.

Der künstlerische Durchbruch kam wieder einmal in Paris. Der dort im Exil lebende griechische Liedermacher Georges Moustaki hatte sich in Piazzollas Musik verliebt und lud ihn ein, bei seinen Abenden im Pariser Musentempel „Olympia“ als seine „Vorband“ aufzutreten. Und das war’s dann.

Der Magier am Bandeneon 

Piazzollas unerhörter Sound, seine obsessiven Rhythmen, seine Dissonanzen, seine Synkopen, seine Leidenschaftlichkeit, seine Melancholie und Zerrissenheit („Er klingt manchmal, als ob Schubert in Buenos Aires gelebt hätte“, sagt Pianist Kutrowatz) nahmen das Publikum im Sturm und ließen es nie mehr los. Tourneen in ganz Europa, Süd-amerika, Japan, den USA etc. konsolidierten diesen Triumph. Und das Bild dieses schmächtigen und nicht besonders hübschen Männchens, das, immer einen Fuß auf ein Podest oder einen Sessel aufgestützt (die meisten seiner Kollegen performen immer sitzend), mit seinem Bandeonon verwachsen zu sein schien und damit besessen aufspielte wie ein entfesselter Dämon, wurde zu einer Ikone der Musik des 20. Jahrhunderts. Und sein Stück „Libertango“ zum Prototyp, zum Inbegriff des Tango Nuevo und als solches ein weltweiter Hit.

Bis heute zählt man nicht weniger als 423 Cover-Versionen davon, von Cellisten, Violinisten, Pianisten Gitarristen und sogar Bandeonisten (darunter u.a. Yo-yo Ma, Gidon Kremer, Daniel Barenboim, Al di Meola, Duo Kutrowatz, Richard Galliano etc.), aber auch in gesungenen Varianten wie z.B. Grace Jones („I’ve seen this face before“) oder Milva (die besonders in Deutschland sehr viel zum Erfolg von Piazzolla beitrug). Für Werbung und für Filme wurde und wird der Titel auch sehr gern verwendet.

Riesiges musikalisches Vermächtnis

Aber der argentinische Meister ist bei Gott kein One Hit Wonder. Ganz im Gegenteil. Im Verlauf seines Lebens schrieb er nicht weniger als 300 Tangos. Am populärsten davon (nach „Libertango“ natürlich): „Adios Nonino“ (anlässlich des Tods seines Vaters geschrieben), „Oblivion“ und „Escualo“ („Der Hai“ – Piazzolla war ein begeisterter Haifischfänger), „La muerte del angel“, „Balada para un loco“. Auch seine Oper „Maria de Buenos Aires“ (Piazzolla  selbst nannte sie „Tango operita“) wurde viel und gern auf den Bühnen dieser Welt gespielt. Die geplante Oper über Carlos Gardel kam leider nie zustande, weil der charismatische Tango-Revolutionär viel zu früh an den Folgen eines in Paris erlittenen Schlag-anfalls 1992 in Buenos Aires starb.

Was erwartet sich Piazzollas Enkel Daniel, der gemeinsam mit der „Fundación Astor Piazzolla“ die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag koordiniert, von diesem „Centenario“? „Natürlich Neuinterpreationen der berühmten Piazzolla-Standards. Vor allem aber auch die Neubewertung der Vielschichtigkeit des Werkes meines Großvaters. Denn außer diesen 300 Tangos hat er ja auch noch 700 andere Werke, darunter 60 Filmmusiken, viele Orchesterwerke und elektronische Musik geschrieben.“ Man darf also gespannt sein …