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Reportagen

Das Prinzip der Unschärfe

Gerhard Richter vor 0165/2021, 2021, Foto David Pinzer, Staatliche Kunstsammlungen Dresden;

© Gerhard Richter 2021 (0165/2021)

 

Gerhard Richter, Betty (425-4), 1977, Öl auf Leinwand, 30 x 40 cm;

© Gerhard Richter 2021 (0165/2021)

Hirsch, Gerhard Richter,

© Gerhard Richter Catalogue Raisonné. Volume 1, Nos. 1-198 1962-1968, courtesy Hatje Cantz Verlag

 

Detailaufnahme im Kölner Dom mit einem Kirchenfenster, gestaltet von Gerhard Richter

© Courtesy Frank Krumbach

 

Tote, 1988, WV 667/1, 62 x 67 cm, The Museum of Modern Art, New York;

© 2019 Gerhard Richter, Köln/courtesy Schirmer/Mosel

Im Februar 2022 wird Gerhard Richter 90 Jahre alt. Bis heute gehört der gebürtige Dresdner weltweit zu den einflussreichsten und teuersten Künstlern. Sechs Jahrzehnte lang schlug er in seinem vielschichtigen Schaffen immer wieder neue künstlerische Wege ein.

Marion Vorbeck (Text)

Die smarte, schillernde oder gar schrille Attitüde ist ihm fremd; Gerhard Richter verfolgte sein Weiterkommen vielmehr auf besonnene, eher sachlich-tiefstaplerische, wenn auch nicht weniger konsequente Art. Trotzdem passt das Attribut Superstar für ihn: Ganze Künstlergenerationen beeinflusste er mit seinem Werk, ein Superstar ist er auch auf dem Kunstmarkt, denn seine Werke zählen zu den am höchsten gehandelten eines lebenden Künstlers. So wurde sein 1986 entstandenes Gemälde „Abstraktes Bild“ beim Londoner Auktionshaus Sotheby’s für 41 Millionen Euro versteigert, ein weiteres „Abstraktes Bild (649-2)“ ersteigerte 2020 das private Pola Museum of Art in Japan für 27,7 Millionen US-Dollar. 

Frühe Erfolge, weltweites Renommee 

Wo Gerhard Richter draufsteht, winken bereits seit den 1960er Jahren Erfolge. Längst wurde der 1932 in Dresden geborene und heute in Köln lebende Künstler von Weltklasse-Museen von Tokio bis New York gewürdigt, mehrmals nahm er an der documenta in Kassel teil und vertrat Deutschland als alleiniger Künstler auf der Venedig-Biennale von 1972. Kaum lässt sich Richters vielschichtiges Schaffen kategorisieren bei all seinen künstlerischen Ansätzen, zu denen er oft Jahrzehnte später wieder zurückkehrte und sie weiterentwickelte: Glas-Skulpturen, Malerei nach Fotovorlagen, an Pop Art erinnernde mosaikartig angelegte Farbfelder, Landschaften, Abstraktes wie Streifen- und Rakelbilder, Malerei in Grau. Nicht selten streben die Konturen bei Richter ihrer Auflösung entgegen, mal pastos und malerisch, mal mit grobem Pinselstrich.

Malerei nach Fotografien 

Subjektivität soll möglichst eliminiert, Neutralität gewonnen werden, zum Beispiel auf den berühmten fotobasierten Ölgemälden: Schon früh nahm sich Richter Fotos vor, um sie im Großformat zu malen: einen Tisch, einen Stuhl, einen faltbaren Trockner, die Alster. Allerdings gibt er diese Gegenstände nicht fotorealistisch wieder, sondern bannt sie wie von einem Nebelschleier verwischt auf die Leinwand. Diese malerische Transformation ruft bei Betrachtern zunächst Irritation hervor, bewirkt aber letztendlich einen faszinierenden Effekt: Weil ablenkende realistische Details eliminiert sind, weil Reales und Abstraktion ineinander übergehen, tritt das Wesentliche dank der Unschärfe deutlicher hervor.

„Wenn ich ein Foto abmale, ist das bewusste Denken ausgeschaltet“, hielt Richter in seinen frühen persönlichen Notizen zu seinem Dialog der Malerei mit dem mechanischen Medium Fotografie fest. Beim Arbeiten nach Fotografien erspart sich der Künstler die Suche nach Motiven und deren Arrangement: „Hirsche, Flugzeuge, Könige, Sekretärinnen. Nichts mehr erfinden zu müssen, alles vergessen, was man unter Malerei versteht, Farbe, Komposition, Räumlichkeit, und was man so alles wusste und dachte. Das war plötzlich nicht mehr Voraussetzung für Kunst.“

Politische Statements 

Bereits 1953, als Student in Dresden, hatte Gerhard Richter offen Stellung gegen die DDR-Regierung bezogen, als er am Aufstand in der dortigen Innenstadt teilnahm. Wiederholt beschäftigte er sich danach in seinen Arbeiten mit gesellschaftspolitischen Themen wie in den abstrakten Birkenau-Bildern, die heimlich von Häftlingen gemachte Fotografien aus dem KZ Birkenau zur Vorlage haben – auf Richters Leinwand verschwinden die Konturen unter brüchigen, düsteren Farblandschaften. 

Sein politisch provokantestes und bedeutendstes Werk ist ein 15-teiliger Zyklus zum „18. Oktober 1977“, das heute dem Museum of Modern Art in New York gehört. Er nimmt sich darin der Gefängnis-Selbstmordes der RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof an und den damit verwobenen Themen Ideologie-gläubigkeit und Fanatismus, aber auch des zwiespältigen Umgangs von Staat und Öffentlichkeit mit dem Komplex des Terrorismus. 

Grundlagen für seine in Grautönen gehaltenen, unscharfen Foto-Bilder waren Aufnahmen in den Medien. Richter wählte Szenen im Zusammenhang mit dem Tod der RAF-Mitglieder, etwa den auf dem Zellenboden liegenden Andreas Baader („Erschossener 1“, „Erschossener 2“) nach einem im Magazin „Stern“ veröffentlichten Polizeifoto oder die Beisetzung von drei RAF-Mitgliedern für sein Gemälde „Beerdigung“. Die Fotovorlagen projizierte er auf eine Leinwand und trug dann auf Bleistift-Vorzeichnungen Ölfarben in Schwarz, Weiß und Grautönen auf. Diese Farbschicht verwischte er anschließend mit einem breiten Pinsel, was für einen unscharfen Effekt der Szenen sorgte.

Farbmusterkarton als Inspiration  

Die Kunstwelt mag nicht wenig gestaunt haben, als auf einmal Kompositionen aus kleinteiligen Farbfeldern von Gerhard Richter auftauchten – ein krasser Bruch zu dessen bisheriger Bildsprache. Wieder war es die eigene Alltagsroutine, die Richter zu diesem Werkkomplex anregte: Beim Einkauf von Malutensilien fielen ihm die im Geschäft ausgelegten Farbmusterkarten auf. Diese vorgegebenen Farbflächen kamen Richters Anliegen entgegen, die Kontrolle beim künstlerischen Prozess zu minimieren. Fortan variierte er für seine Gemälde die Anordnung quadratischer Farbfelder und übertrug sie vergrößert auf die Leinwand.

Solche Rasterbilder verließen sein Atelier mit unterschiedlich vielen quadratischen Elementen – angefangen bei „4 Farben“ über „1024 Farben“ bis hin zu „4096 Farben“ von 1974 oder im Jahr 2007 „4900 Farben“. Letztere Arbeit aus Lacktafeln besteht aus insgesamt 196 quadratischen Bildern, wobei jedes einzelne Bild 25 gemalte Quadrate von knapp 50 mal 50 Zentimetern Umfang enthält.

Einmal mehr zeigt sich, dass der Zufall in Gerhard Richters Arbeiten zunehmend wichtiger wurde – der Künstler selbst schafft für ihn „nur“ die Rahmenbedingungen: Die Anordnung der einzelnen Farbfelder nach dem Zufallsprinzip überließ er einem Computerprogramm.

Wechselspiel von Zufall und Kalkül  

Richter sagte einmal, dass ihn zwar die figurative Malerei interessiere, ihm jedoch dafür die Themen fehlen würden. Die Abstraktion dagegen sei für ihn so normal wie das Laufen oder Atmen. Und diese lotete er in alle möglichen Richtungen aus. Ob Raster, ob Streifen, ob Schlieren: Im Malprozess sollen subjektive Expression des Künstlers und Kontrolle minimiert werden – wofür Richter auch bei seinen Abstrakten Bildern den Gehilfen Zufall einsetzte.

So schabte er etwa mit einer Rakel, einem Werkzeug aus dem Handwerkerbedarf, über die noch feuchten Farbschichten eines Bildes. Das Verschieben mehrerer Farbschichten verhindert, dass der Künstler einen unmittelbaren Einfluss auf den Effekt hat, wenn tiefer gelegene Ebenen zum Vorschein kommen und sich mit anderen mischen.

Fenster für Gotteshäuser

Dann kam ein Auftrag für das Fenster des Südquerhauses des Kölner Doms. Gerhard Richter entschied sich, sein Bild „4096 Farben“ vor Augen, für eine Umsetzung mit farbigen Glassegmenten und den Einsatz des Zufallsprinzips. Wer nun auf 11.500 mundgeblasene Glasquadrate von je knapp zehn Zentimetern blickt, ahnt indes nicht, dass die Anordnung des auf 72 Farbtönen aufbauenden Mosaiks teilweise zufällig von einem Computer generiert wurde. 

Ähnlich verhält es sich bei den drei Richter-Fenstern für den Chor der Abteikirche St. Mauritius im saarländischen Tholey: Jeweils 9,30 Meter hoch und fast zwei Meter breit entfalten sich Motive fast wie auf Rohrschach-Bildern, die auf der wiederholten Teilung und Spiegelung einer abstrakten Arbeit von Richter (Werkverzeichnisnummer 724-4, 2009) basieren. 

Die technische Ausführung der Fenster übertrug Richter der Bayerischen Hofglasmalerei Gustav van Treeck in München. „Wir mussten die Bilder optimal in Glas übersetzen. Dabei unterstützte digitale Bildbearbeitung das tradierte handwerkliche Können“, erklärt Geschäftsführerin Katja Zukic die gestalterische Umsetzungsstrategie. 2020 wurden die Fenster, in Rot-, Blau und Gelbtönen schimmernd, eingeweiht. Der Künstler, dessen Werke sich längst nur noch Superreiche leisten können, schenkte den Benediktinern von Tholey sein, wie er damals verkündete, letztes großes Werk.