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Reportagen

Die stille Schöne

Altstadt von Matera

Im Abendlicht leuchtet die Altstadt von Matera wie ein Pastellgemälde.

© Fotolia – rudi1976

Compania dei Folli Matera 2019

Szene am Dom mit der „Compania dei Folli“ aus der Eröffnungszeremonie im vergangenen Januar

© Fondazione Matera Basilicata 2019

Matera 2019

„Matera 2019 – Open Future“ lautet das Motto als „Europäische Kulturhauptstadt“.

© Shutterstock

Hotel Sextantio Le Grotte della Civita

Höhlen-Wohnen 2019: Das außergewöhnliche Hotel "Sextantio Le Grotte della Civita" ist ein luxuriöser ein Hotelkomplex mitten in einer Höhle.

© Hotel Sextantio Le Grotte della Civita

Matera Centrale

Der neue Bahnhof „Matera Centrale“ ist ein Werk des Mailänder Stararchitekten Stefano Boeri; Eröffnung ist im Mai.

© Stefano Boeri Architetti/Rendering

Die Höhlenstadt Matera in der süditalienischen Basilikata ist mit ihren Festivals und neuer Architektur auch oberirdisch eine Entdeckung.

Joachim Chwaszcza (Text und Bilder)

Zugegeben, es ist keine geografische Lücke, wenn man das Städtchen Matera bislang nicht gekannt hat. Es liegt in der Basilikata, im südlichen Italien. Still und versteckt, traditionell eher wenig besucht und auch für die meis­ten Italienkenner abseits der üblichen Trampelpfade. Matera ist „Europäische Kulturhauptstadt 2019“ und ein bisschen anders. Ein kleines Juwel in unserer heutigen Zeit.

Wer sich, angeregt durch den vielversprechenden Titel einer Kulturhauptstadt, auf den Weg gen Süditalien und nach Matera macht, sollte gutes Schuhwerk einpacken. Denn den Zauber
Materas kann man nur auf eine Art und Weise des Reisens entdecken, dem die meisten Destinationen unserer heutigen Zeit gänzlich abgeschworen haben, nämlich zu Fuß. Wer die berühmten Höhlenviertel, die Sassi, besuchen will, kann es nur wie in den alten Tagen per pedes. 

Materas Charme war lange Zeit sein Fluch

Steil abfallend am Rande der Murgia, dem weitläufig sanft geschwungenen Plateau, das das Landschaftsbild der Basilikata prägt, liegt Matera pittoresk an der Kante zur Gravina-Schlucht, eines tief eingeschnittenen Canyons. Es schmiegt sich weiß leuchtend so charmant in die Landschaft, dass man es kaum verstehen kann, dass diese Stadt in den letzten Jahrzehnten so wenig beachtet wurde. Verwinkelte Gassen, in den weichen Tuffstein gegrabene Höhlenkirchen und Höhlenwohnungen, versteckte Durchgänge, glatt polierte Kalksteinwege, steile Treppen – hier gibt es keine Möglichkeit für einen klimatisierten Reisebus oder ein schnelles Taxi. 

Materas Herzkammern sind die Sassi, die „Steine“. So nennen die Bewohner die beiden Schluchten und Höhlenviertel, die sich links und rechts des Domberges in den weichen Tuffstein gegraben haben – Sasso Barisardo und die Sasso Caveoso. Ein Höllentrichter ins Inferno, so wie in Dantes wunderbarer „Göttlichen Komödie“. Darüber thront die vornehme Oberstadt mit den Palazzi der reichen Adligen und Bürger, der gestylten Piazza Vittorio Veneto, den feinen Geschäften. Eine Stadt in zwei Ebenen, ein Leben in zwei Welten. Arm und reich, Materas Charme war lange Zeit sein Fluch. Denn was sich heute so charmant als Höhlenhotel, familiäre B&B-Wohnung, als schnuckeliges Café oder schickes Restaurant zeigt, dessen Räumlichkeiten drei Stockwerke tief unter oder in die Erde führen, war bis vor wenigen Jahrzehnten noch Armut pur. 

Wie so viele Städte Süditaliens im letzten Jahrhundert war Matera in Vergessenheit geraten. Auch wenn uralte Siedlungsspuren belegen, dass die heute gut 60.000 Einwohner zählende Stadt zu den wohl ältesten ständig bewohnten Siedlungsorten der Menschheit gehört. Nicht nur die rund 150 Höhlenkirchen rund um Matera erzählen von einer regen frühchristlichen Bevölkerung, ebenso die alten Palazzi und Kirchen der wenigen reichen Adligen und Bürger, von denen allerdings wohl kaum einer in die Sassi hinabstieg. Eine
Situation, die sich heute dank dem unglaublichen Wandel der Höhlenstadt radikal geändert hat

Seit 1993 gehören die Sassi zum UNESCO-Weltkulturerbe 

Aber es war nicht Dantes Höllenbeschreibung in der „Göttlichen Komödie“, sondern Carlo Levis Buch „Chris­tus kam nur bis Eboli“, das für viele Materani, die bis weit in die 1950er Jahre hinein oftmals ohne fließend Wasser und zusammen mit ihrem Vieh in den stallartigen Höhlen unter katastrophalen Lebensbedingungen wohnten, den ersten Wandel brachte. Der italienische Schriftseller Carlo Levi wurde während der faschistischen Ära unter Mussolini in ein kleines Dorf in der Basilikata verbannt.

In „Chris­tus kam nur bis Eboli“ schildert er in ergreifender Weise die unwürdigen Lebensumstände. Angeregt durch diese Schilderungen gingen in den 1950er Jahren italienische Intellektuelle und lokale Politiker daran, diese Missstände anzuprangern. Hochrangige Politiker wie de Gaspari bequemten sich von Rom nach Matera und waren schockiert. Sie sprachen von der „infamia nazionale“, der nationalen Schande, oder der „vergogna d’Italia“, der Schande Italiens. Wohnsiedlungen wurden in der Oberstadt gebaut, die Bewohner der Sassi mal freiwillig, mal mit Druck umgesiedelt, manche blieben, sie hatten keine andere Möglichkeit – so arm waren sie.

Die Sassi verfielen, verdreckten, wurden so morbid-pittoresk, dass immer mehr Regisseure Matera als ideale Location für eine frühere Zeit wählten. Denn nirgendwo sonst fand man eine derart dichte Kulisse, die so biblisch anmutete und so authentisch war. Pier Paolo Pasolini öffnete mit dem in Matera gedrehten Film „Matthäus-Evangelium“ 1964 das Tor zur Welt. Namhafte italienische
Regisseure wie Francesco Rossi oder die Brüder Taviani folgten. Sogar Hollywood kam. Mel Gibson drehte nahezu alle Außenszenen für „Die Passion Christi“ 2004 in und um Matera, und auch das Remake von „Ben Hur“ 2016 wurde teilweise in Matera gedreht. 

Die Schande Italiens wurde zur vielleicht schönsten Stadt der Landes

Wer heute durch Matera und die Sassi schlendert, spürt eigentlich wenig von den gewaltigen Anstrengungen, die die Materani und ihre Bürgerschaft in den letzten 30 Jahren unternommen haben, um, wie es eine italienische Tageszeitung vor ein paar Jahren formulierte, zur „lebenswertesten Stadt Süditaliens“ aufzusteigen. Seit 1993 gehören die
Sassi zum UNESCO-Weltkulturerbe, 2014 bekam Matera vor namhafteren anderen italienischen Mitbewerbern als erste süditalienische Stadt den Zuschlag als „Europäische Kulturhauptstadt“. 

Die Ziele der Kulturhauptstädte sind so vielfältig wie diffus. Es ist von der „Hervorhebung der Gemeinsamkeiten“ oder der „Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls von Europäer/innen zu einem gemeinsamen Kulturraum“ die Rede, aber eben auch von der „Stärkung des Beitrags von Kultur zur Stadtentwicklung“. Und genau das ist in Matera nachhaltig geschehen, denn man legte den Fokus auf die Entwicklung, und deswegen ist Matera anders. 

Mit aufwendigen Hilfsprogrammen wurden die Sassi neu belebt. Die meisten der einstmals ärmlichen Höhlenwohnungen sind heute in schicke B&Bs oder gar Boutique-Hotels umgewandelt. Ein großer Zisternenkomplex dient einem 5-Sterne-Hotel als Swimmingpool. Wo ehemals alter Bauschutt und Müll verschwand, schwimmt man heute eben von Zisterne zu Zisterne. Läden, Kunsthandwerker, Cafés, Weinbars – das Leben in den Sassi hat sich, abgesehen davon, dass man weiterhin alles nur zu Fuß erreichen kann, um 180 Grad gewandelt.

Inzwischen hat sich das auch rumgesprochen. Nicht nur in Italien und Amerika, sondern auch in Asien. Touristenströme folgen anderen Wegen und mit gezielter Werbung oder der Zufälligkeit, neben den üblichen Höhepunkten wie Bari, Castel del Monte, Alberobello und Trani routengünstig am Weg zu liegen. Damit hat sich auch das geruhsame Leben in Matera und den Sassi gewandelt. Wo einst stille Armut lebte, pulsieren heute untertags die Besuchergruppen. Geführt in allen EU-Sprachen, Russisch, Japanisch oder Chinesisch.  

Matera will mit seinen Bewohnern in eine bessere Zukunft aufbrechen

Fast schon wieder malerisch, wie sich die Besucherkarawanen durch die engen Gassen schieben. Filmreife Szenen sind es allemal. Aber noch ist Matera für die meisten Besucher höchstens ein Kurzreiseziel fürs Wochenende. Ein Umstand, der sich wohl auch 2019 als Kulturhauptstadt nicht viel ändern wird. Wer aber das echte Matera erleben will, eintauchen will in das Leben der Basilikata, wer Land und Leute, Kultur und Geschichte, Wein und Küche kennenlernen will, der bleibt. „Wir nennen die Besucher ‚Bürger auf Zeit‘. Wir wollen sie einladen, länger bei uns zu bleiben, einen Dialog anzufangen …“, formulierte es Paolo Verri, einer der Leiter und Verantwortlichen für das Projekt „Kulturhauptstadt“. Kultur ist in Matera das eine Thema, Stadt und Zusammenleben das andere. 

Ein guter Ansatz. Ein paar Tage sind dann sicherlich notwendig, mit der Zeit entdeckt man in und um Matera immer mehr Liebenswertes und Einzigartiges, das so gar nicht in unser schnelles Reisebild des Abhakens und Dagewesen­seins passt. Es ist das Los Europäischer Kulturhaupt­städte, dass mit einem Schlag die Besucherströme ansteigen. Hotelzimmer sind dann Mangelware, die Restaurants voll, die Preise schnellen ins astronomische, und die Bewohner sind irgendwann genervt.

Und dann pendelt sich alles im nächsten Jahr wieder ein, wird ruhiger und entspannter – vielleicht auch ein guter Zeitpunkt, sich mit Ruhe und Muße ein paar Tage dieser wunderbaren Europäischen Kulturhauptstadt zu widmen, in den Sassi zu wohnen und die Umgebung zu erkunden. Das wäre dann auch ganz im Sinne der Idee einer Kulturhauptstadt. Übrigens, es sind immer zwei Kandidaten, die den Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ tragen dürfen. Neben Matera ist es 2019 Plowdiw, die zweitgrößte Stadt Bulgariens. Aber das ist eine andere Geschichte …