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Reportagen

Ride East!

Mit dem Fuji im Rücken geht es von der Provinzstadt Gotemba ins hügelige Umland.

Mit dem Fuji im Rücken geht es von der Provinzstadt Gotemba ins hügelige Umland.

© Cahn Butler

 

Der Anstieg auf der olympischen Strecke beim Straßenrennen zieht sich über 6,8 km hin.

Der Anstieg auf der olympischen Strecke beim Straßenrennen zieht sich über 6,8 km hin.

© Cahn Butler

Vorbei an Feldern, in denen junge Reis-Setzlinge im Wasser stehen, gewinnt die Rad-Truppe rasch an Höhe.

Es geht auch vorbei an Feldern, in denen junge Reis-Setzlinge im Wasser stehen.

© Cahn Butler

Gruppen-Selfie

Gruppen-Selfie

© Cahn Butler

Die Olympischen Sommerspiele in Japan 2020 werfen in der nahe Tokio gelegenen Präfektur Shizuoka ihre Schatten voraus. Schon jetzt kann man die Strecken entdecken, auf denen sich am 25. und 26. Juli die weltweite Rad-Elite beim Straßenrennen messen wird.

Günter Kast (Text) Cahn Butler (Bilder)

Im Winter gibt’s ein Leben ohne Rad und viele andere Ablenkungen. Und man könnte den Saisonauftakt ja ganz gemütlich angehen lassen. Seit der Ankunft in Nippon wissen wir: Kann man nicht! Zumindest nicht, wenn man mit Adam Cobain (43) unterwegs ist, dem Gründer von „RideJapan“. In vier Tagen will uns der seit 20 Jahren in Japan lebende Australier die besten und schönsten Strecken in der Präfektur Shizuoka zeigen, wo in diesem Jahr bei den Olympischen Sommerspielen in Tokio die Straßenrennen stattfinden werden. Seit sich das IOC auf die Route festgelegt hat, herrscht in der Region am Fuß des Mount Fuji, dem mit 3776 Metern höchsten Berg des Landes, Aufbruchsstimmung. Shizuoka will zu einer führenden Destination für Rennrad fahrende Touristen werden, auch für Gäste aus Deutschland.

Der erste Tag war noch harmlos. Begleitet von Mitgliedern des örtlichen Radclubs, ging es von der Provinzstadt Gotemba ins hügelige Umland. Da waren schon 500 Höhenmeter am Stück zu überwinden, aber mit eher harmloser Steigung. Gegenüber thronte der mächtige und symmetrische Vulkankegel des Fuji, bis zur Hälfte noch schneebedeckt, imposant, heilig, alles überragend. Am Vormittag präsentierte sich der Berg sogar vollkommen wolkenfrei, was im Sommerhalbjahr eine Seltenheit ist. 

Nagelneue Schleichwege

Wir ließen das wuselige Stadtleben schnell hinter uns und fuhren auf einer kleinen Asphaltstraße bergauf. Kein einziges Auto überholte uns, vollkommene Stille. Wir hatten das so in dem dicht besiedelten und stark industrialisierten Japan nicht unbedingt erwartet. Die vielen kleinen Teersträßchen sind ein Segen, doch ihre große Zahl hat einen Grund: Weil im früheren Fortschritts-Labor Japan die Konjunktur schon viele Jahre schwächelt und die Bevölkerung dramatisch altert, versucht die Regierung mit öffentlichen Infrastrukturprojekten wie dem Straßenbau gegenzusteuern, um die Wirtschaft anzukurbeln. Kleine Schleichwege schießen deshalb allerorten wie Bambus aus dem Boden – glatt wie ein Kinderpopo, frei von Schlaglöchern. 

Mittagspause machten wir im „Niku Tomo“, was übersetzt „Fleisch-Fan“ bedeutet: Es gab rohes Pferde-Carpaccio und paniertes Schweinefleisch auf gebratenem Reis – fein, aber für Radfahrer gewöhnungsbedürftig, genauso wie das Platznehmen im Schneidersitz an nur kniehohen Tischchen, natürlich ohne Radschuhe. Der Wirt, selbst Hobbyfahrer, beobachtete unsere Verrenkungen mit einem mitleidigen Lächeln. 

Streng geregelte Teezeremonie

Am Nachmittag ließen wir es wegen des Jetlags ruhig angehen und nahmen an einer Grüntee-Verkostung teil, die wie so vieles in Japan strengen Regeln folgt. Selbst beim Nachmachen waren keine Fehler erlaubt. Als Dank für die bestandene Prüfung gab’s einen Grüntee-Brownie – und später beim traditionellen Kaiseki-Dinner wahre Kunstwerke aus Essbarem: sehr authentisch, vieles davon noch nie probiert, und ganz weit weg vom Sushi-Laufband, wie man es daheim kennt.

Der zweite Tag klang mit 82 Kilometern und 1400 Höhenmetern zunächst auch noch sehr überschaubar. Wir kurbelten zum „Fuji International Speedway“, wo das olympische Radrennen enden wird. Auf dem Rundkurs traktierten Motorsport-Fans ihre PS-Boliden und veranstalteten einen Höllenlärm. Wir ließen uns den Zieleinlauf mit der großen Zuschauertribüne zeigen und stellten uns auf das Siegertreppchen. Wer dort im Juli wohl ganz oben stehen wird? Zu Mittag gab’s dieses Mal nur leichte Kost aus einer Bento-Box als Picknick an einem der vielen Shinto-Schreine, die überall in Nippon zu finden sind. Das Light-Menü war eine gute Wahl, denn nun war Schluss mit lustig.

Wir nahmen uns den Anstieg vor, der das olympische Radrennen mit großer Wahrscheinlichkeit entscheiden wird: 6,8 endlos lange Kilometer mit einer durchschnittlichen Steigung von gut zehn Prozent, in der Spitze bis 20 Prozent aufsteilend, sodass einem die Straße fast ins Gesicht fällt und so früh in der Saison auf jeden Fall eine ganz schöne Plackerei, ehe der 1159 Meter hohe Mikuni-Pass erreicht war. 

Bei der Rückfahrt über ein anderes Joch kamen uns viele einheimische Rennradfahrer entgegen, schließlich war Sonntag und damit für viele Japaner der einzige wirklich freie Tag der Woche. Die meisten fuhren mit altmodischer Ausrüstung und einem großen Rucksack. Vorsichtig, für alle Wetterkapriolen gerüstet. Manche treten sogar mit Mundschutz in die Pedale, um sich selbst und andere nicht mit Bakterien zu belästigen. Radfahren hat in Japan zwar Tradition, allerdings eher das Alltagsradeln in den Städten als der Rennradsport auf dem Land. Dieser wurde erst im vergangenen Jahrzehnt populär.

Zur Erholung von dem harten Anstieg halten wir unsere Füße in heißes Wasser aus natürlichen Quellen in einem kleinen Park. Radschuhe aus, Füße rein, herrlich! Solche Fuß-Onsen gibt es in Japan in fast jedem Ort. Tiefenentspannt rollen wir ins Hotel zurück. Wir haben heute gelernt: 20 Prozent fühlen sich überall auf der Welt gleich fies an. Aber wo kann man schon aus einem Automaten mit kryptischen Schriftzeichen ein Heißgetränk ziehen und sich auf eine heiße Schoko freuen, nur um dann festzustellen, dass es schwarze Bohnensuppe ist? Wo kann man nach dem Radfahren in ein von vulkanischen Quellen gespeistes, 45 Grad heißes Onsen-Bad tauchen und eine halbe Stunde lang einen akribisch zugeschnittenen Bonsai betrachten, bis auch der letzte Rest westlicher Hektik von einem abfällt? Und wo kann man sich auf eine beheizte und mit allem Techno-Schnickschnack ausgestattete Klobrille setzen? Radfahren in Japan ist eben mehr als Kilometer bolzen und Höhenmeter sammeln!

Glückseligkeit fürs Radlerherz

Am dritten Tag wechseln wir in die Kleinstadt Izu, die auf einer Halbinsel liegt, ganz nah am Meer. Vor dem ersten Anstieg besichtigen wir die „Merida X Base“, einen erst kürzlich eröffneten, imposant großen Showroom eines Radherstellers, in dem sich Besucher sämtliche Modelle, auch die teuersten Zeitfahr-Maschinen, zum Testen ausleihen können – „Engineered in Germany“ zieht eben auch in Fernost. Nach einer Stärkung mit so frischem wie auf der Zunge zergehendem Sashimi brechen wir in die umliegenden Hügel auf, verlassen das dicht besiedelte Haupttal, in dem sich traditionelle Baukunst und moderne Architektur abwechseln. Vorbei an Feldern, in denen junge Reis-Setzlinge im Wasser stehen, gewinnen wir rasch an Höhe. Noch sind die Pflanzen klein, später im Jahr wird alles in einem noch satteren Grün leuchten. Eine Greisin arbeitet mit gekrümmtem Rücken in den Feldern, ihre Bewegungen wirken trotz des hohen Alters würdevoll. 

Dann umschließt uns dichter Wald aus Laubbäumen, auch Bambus ist dabei. Die Luft ist feucht und riecht würzig. Hier leben sogar Bären, hatte uns Adam erzählt. Wie zum Beweis, dass es noch wilde Tiere gibt, überquert eine meterlange Schlange die Straße, ein Dachs zwingt einen Mitfahrer zu einer Vollbremsung. Das Velodrome, in dem die olympischen Bahnrad-Wettbewerbe stattfinden werden und an dem wir jetzt vorbeikommen, können wir leider nicht besichtigen, es wird noch umgebaut.

Als wir abends im „Kona Stay“ in Izu einchecken, trauen wir unseren Augen kaum: Das ehemalige Ryokan (so heißen traditionelle Hotels in Japan) wurde von seinem radverrückten Eigentümer in einen Hafen der Glückseligkeit für Zweirad-Fans verwandelt. Es gibt alles, was das Herz begehrt: großzügige Zimmer mit einem gelungenen Mix aus Moderne und Tradition, mit Tatami-Matten und flauschigen Daunendecken, Leih-Bikes aller Kategorien von Rennrad bis E-Bike, Showroom, Rad-Ersatzteile und Schläuche aus dem Automaten, Grillplatz und Onsen-Bad, Areale zum Chillen. „So ein Ort ist ein Glücksfall“, schwärmt Adam. 

Denn ansonsten sei es in Japan nicht gerade einfach, geeignete Herbergen für Radfahrer zu finden. Zum Dinner erscheint sogar der Bürgermeister von Izu, selbst ein begeisterter Hobbyfahrer. Er hat mehrere Jahre in Berlin für die Botschaft seines Landes gearbeitet, ist deshalb ungewohnt direkt für einen Japaner. „Was müssen wir tun, um langfristig mehr Radtouristen anzulocken?“, will er wissen. Er erinnert sich noch an die Winterspiele in Nagano 1998, wo vor dem Sportfest wie wild investiert wurde und danach gar nicht mehr. Der Absturz war brutal, die Leute vergaßen Nagano und Hakuba, das Tal blieb auf einem haushohen Berg von Schulden sitzen. „Im Moment macht ihr alles richtig!“, möchte man dem Mann zurufen, als die dritte Runde Sake eingeschenkt wird. Zum Wohl, Kampai!

Am Meer vorbei

Der letzte Giro führt uns, leicht verkatert, von Izu nach Shuzenji. Noch einmal genießen wir den Blick auf Reisfelder und Bambuswälder, auf die pittoresken, roten Brücken und die Kraftplätze rund um die Schreine. An einem 800 Meter hohen Pass sehen wir zum ersten Mal das Meer, die Sagami-Bucht. 15 Minuten später, nach einer zehn Kilometer langen Abfahrt, rollen wir an der Kaimauer von Heda entlang.

Im nächsten Seebad zwängen sich Flaschentaucher vor einer morbiden Kulisse aus Häusern in ihre Neoprenanzüge – zum Baden ist es noch zu kalt. Zudem rotten sich am Himmel dichte Wolken zusammen. Den geplanten Lunch mit Riesenkrabben verschieben wir auf den Abend und geben auf der fast ebenen Uferstraße jetzt richtig Gas. Kurz vor dem Platzregen trudeln wir im „Kona Stay“ ein. Erst dort fällt uns auf, dass wir den einheimischen Fahrer mit dem Bauchansatz, der sich uns heute Morgen vorgestellt hatte, irgendwie verloren haben. „Lost in Translation“ kann man da nur sagen. Zuerst ist es uns ein bisschen peinlich. Dann aber sind wir erleichtert. Ist es nicht beruhi-gend, zu wissen, dass selbst für vorsorgende Japaner der Frühling völlig überraschend kommt?