Let It Be

Blick auf das Royal Liver Building im Hafengebiet Pier Head am River Mersey
© Robert B. Fishman

Auch in Liverpool hipp: Street Food, hier aus einem umgebauten Londoner Bus
© Robert B. Fishman

Im Museum The British Music Experience wird seit 2017 die Geschichte der britischen Rock- und Pop-Musik von 1945 an erzählt.
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Kunst in einem der trendigen Cafés
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Bühne im legendären „Cavern Club“, in dem die Beatles einst auftraten.
© Robert B. Fishman
Englands einstiges Schmuddelkind feiert seinen Wandel zum kreativsten Pflaster nördlich von London.
Robert B. Fishman (Bilder und Text)
Vor zehn Jahren war Liverpool eine der bisher erfolgreichsten Europäischen Kulturhauptstädte. Mit dem Glauben an sich selbst, vielen kreativen Menschen und einem ganz besonderen Humor
begann sich die heruntergekommene Hafen- und Arbeiterstadt aus Tristesse und Niedergang zu befreien.
Die „Royal Iris of the Mersey“ ist noch ganz die Alte: Schwarz, weißer Aufbau, geht sie wie immer längsseits an den Fähranleger an der Waterfront, pendelt jahrein, jahraus zwischen Birkenhead und Liverpool. Berühmt wurde die „Ferry cross the Mersey“ mit dem gleichnamigen Lied der Gruppe Gerry and the Pacemakers Anfang der 1960er Jahre.
Aus dem Dunst des Stroms steigen die beiden Türme des Royal Liver Building und der Bau der Hafenverwaltung mit der Kuppel auf. Zur Glanzzeit des damals wichtigsten britischen Hafens verewigten sich große Unternehmen an der Waterfront mit aufwendig verzierten Bürohochhäusern im viktorianischen und edwardianischen Stil. Auf den Turmspitzen des Royal Liver Building, dem Palast der einstigen Royal Liver Assurance, heute der Royal Liver Friendly Society, sitzen zwei große Vögel: die Liver Birds. Die Bauherren bestellten bei einem Bildhauer Adler. Der Mann wusste nicht, wie ein solcher aussieht. So schuf er eine krude Mischung aus Kormoran und Greifvogel. Die ebenso ahnungslosen Auftraggeber präsentierten das neue Wappentier der reichen Handelsstadt. Seitdem blickt der eine Liver Bird aufs Meer, der andere landeinwärts: „die Seemannsbraut, die nach dem Liebs-ten Ausschau hält und der Matrose, der sehen will, ob die Kneipen in der Stadt schon geöffnet sind.“
Über Jahrzehnte hatte Liverpool einen miesen Ruf. Anfang der 1980er Jahre verfielen ganze Straßenzüge. Die Werften hatten aufgegeben. Der Hafen war fortgezogen, mit ihm die Industrie. Premierministerin Margret Thatcher hatte der Wirtschaft eine marktradikale Rosskur verpasst. Jugendliche revoltierten gegen Hoffnungslosigkeit und Armut. Europaweit berichteten die Medien von den Aufständen in Toxteth, damals einer der finstersten Stadtteile Großbritanniens.
Reich geworden war die Stadt im 17. und 18. Jahrhundert mit Geschäften, an die sich heute niemand mehr gerne erinnert: dem Sklavenhandel. „Hier sehen sie, wie die Gefangenen an Bord leben mussten“, erklärt der Sprecher des Liverpooler Sklavereimuseums. Er deutet in einen fensterlosen Holzverschlag mit nackten, eng übereinander gestapelten Pritschen.
Mit dem Museum stellt sich das neue Liverpool auch den dunklen Seiten seiner Vergangenheit. Das neue Stadtmuseum in einem futuristischen silbrig-weißen Bau nebenan erzählt die Geschichte der Stadt. Es zeigt auch die Not der Massen während der Industrialisierung, Aufschwung und Niedergang.
Belebung der City
Charlotte kennt noch das graue, von Wirtschaft und Politik aufgegebene Liverpool. Heute überschlägt sie sich fast vor Begeisterung für ihre Stadt. Immer mehr junge Leute ziehen in die einst weitgehend verlassene Innenstadt. Zum Europäischen Kulturhauptstadtjahr 2008 eröffnete das Einkaufszentrum „Liverpool ONE“, inzwischen eines der beliebtesten Shopping-Reviere Englands. Der Unterschied zu den üblichen Malls: Läden, Cafés und Restaurants verteilen sich in einer mehrstöckigen Fußgängerzone. Neben den Filialen der großen Ketten gibt es auch lokale Geschäfte. Darunter liegen die beim Bau wiederentdeckten Fundamente des ersten Docks der Welt, das 1715 hier gebaut wurde. Sie wurden in das „Liverpool ONE“ integriert.
Die 44-jährige Charlotte arbeitet im Museum The Beatles Story, das im Royal Albert Dock die Geschichte der berühmtesten Liverpooler erzählt. Nebenbei hat sie sich als Fremdenführerin selbstständig gemacht. Wie sie profitieren viele vom Aufschwung der Stadt. Von einer Gentrifizierung merkt Charlotte nichts. „Ich kann mir sogar eine Wohnung in der neuen Marina leisten“, sagt sie, selbst Arbeiterkind aus Birkenhead auf der anderen Seite des Mersey-Flusses. „Vor meinem Fens-ter sehe ich Wasser und Yachten.“ Zur Arbeit im Royal Albert Dock und in die Stadt geht sie zu Fuss.
In den Rope Walks, wo die Seiler früher die Taue für die Schiffe fertigten, haben viele schräge Läden, stylische Cafés, Clubs und Kneipen aufgemacht. Ein Café verkauft zwischen rohen Wänden Second-Hand-Klamotten und gebrauchte Bücher. Die Häuser an der Bold Street aus vielen Jahrhunderten tragen Street Art. In den ungezählten Kneipen spielen laufend Musiker – mal organisiert, mal ganz spontan – zu einer Session. In den Backstein- und Industriebauten einer ehemaligen Brauerei im neuen Ausgeh-Viertel Baltic Triangle sind zahlreiche Bars gezogen. Das „Peaky Blinders“ hat sich nach der gleichnamigen Fernsehserie benannt. Einige Besucher haben sich angezogen wie die Schauspieler der Serie, die im Birmingham der 1920er Jahre kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges spielt. Drehorte waren Birmingham, Leeds und Liverpool.
Weltstadt der Musik
Auf dem Weg zurück in die Stadt liegt die Slater Street mit ihren vielen Clubs, in denen fast jeden Abend Bands spielen. Vor dem „Jacaranda“ und anderen Läden stehen die Leute Schlange. Trotz Temperaturen um die 5 Grad haben sich die Mädchen in ultra kurzen Röcken und Tops aufgebrezelt. Wer intensiv genug „vorgeglüht“ hat, spürt die Kälte nicht.
Die Touristen tummeln sich vor allem an der Mathew Street. Die Wände der alten Backsteinhäuser werfen die Musik aus den Kneipen auf die Gasse, wo sie sich zu einem Brei aus Balladen, Country-Klängen und harten Gitarrenakkorden vermischt. Liedermacher, Rockmusiker und immer wieder Coversänger der Gruppe, die Besucher aus der ganzen Welt nach Liverpool lockt: The Beatles.
Sie sind hier aufgewachsen. Als sie noch kaum einer kannte, traten sie für ein paar Pfund im Keller eines ehemaligen Lagerhauses auf: dem „Cavern Club“, heute ein Wallfahrtsort für die Fans. In den Regalen liegen hinter Glasscheiben Souvenirs der Fab Four. Auf der Bühne versuchen sich täglich andere Interpreten an ihren Stücken. Die meisten sind aktuell wie damals.
Auf den Spuren der Fab Four
Phil, in Liverpool geboren und aufgewachsen, fährt in seinem Minibus Touristen unter anderem auf den Spuren der Musik durch die Stadt. So auch auf denen der Fab Four. Fast jedes der Beatles-Lieder erzählt eine Liverpooler Geschichte. Die „Strawberry Fields“ waren ein zum Waisenhaus umgebauter Herrensitz mit einem weitläufigen Park. Dort spielten die Vier als Kinder Cowboy und Indianer. Später feierten sie hier die ersten Partys. „Strawberry Fields for-ever … Nothing is real …“, singen sie, „gar nichts ist wahr“, und träumen von der Unbeschwertheit ihrer Kindheitsfantasien, als man „ein Drachen, ein Ritter oder ein Flugzeug“ sein konnte.
Auch dem Stadtteil Penny Lane haben sie ein musikalisches Denkmal gesetzt. Kaum jemand weiß noch, dass die Straße, die dem Viertel seinen Namen gibt, nach dem Sklavenhändler James Penny benannt ist. Paul McCartney singt über seine Kindheit im Viertel, erzählt vom italienischen Friseur Bioletti, der den Kindern Bonbons schenkte, Witze erzählte und seinen Kunden den „Entenarsch“-Haarschnitt der Rock’n’Roller verpassen konnte. Für Phil Hughes ist das Lied „ein Tagebuch.“
Phil hat Deutsch bei der Armee gelernt. Unterwegs erzählt er zum Beispiel, dass der Chorleiter der Kathedrale Paul McCartney als Teenie nicht mitsingen lassen wollte. Seine Stimme sei zu schlecht gewesen.
Den Liverpooler Dialekt, das leicht prollige Scouse mit seinen schottischen und irischen Einsprengseln, haben die Beatles salonfähig gemacht. In „Maggie May“ singen sie Schimpfwörter, die der Jugendschutz in reinem Englisch damals vermutlich verboten hätte.
Die „Scouser“, wie sich die querköpfigen Einheimischen wegen ihres breiten, manchmal ordinären Slangs nennen, verstehen sich als gerade raus, zupackend, redselig und hilfsbereit – oder mit den Worten der Band Gerry and the Pacemakers im Lied „Ferry cross the Mersey“: „… People around every corner, They seem to smile and say, We don’t care what your name is boy, We’ll never turn you away …“ Die Leute scheinen zu lächeln und sagen: „Uns ist es egal, wie Du heißt. Wir werden Dich nie abweisen.“

„SuperLambBanana“-Skulptur des japanischen Künstlers Taro Chiezo
© Robert B. Fishman

Street Art in der Bold Street
© Robert B. Fishman

Am Pier Head findet man auch die bei Fans beliebte Bronze-Statue der Beatles des Künstlers Andrew Edwards, hier ein Close-up von John Lennons Kopf.
© Robert B. Fishman