Schön abhängen

An das frei schwebende Abseilen gewöhnt man sich schnell – schon beim zweiten Mal ist es Genuss pur.
© Günter Kast

Auf dem „Sun Trek“ fast immer im Blick: die blaue Ägäis
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Übernachtet wird in einsamen Buchten im Schlafsack unter freiem Himmel, …
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… tagsüber kommt man an Klöstern vorbei …
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... und manchmal auch an einer Bergkuppe, auf der die griechische Flagge weht.
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Steffi und Andi genießen griechische Köstlichkeiten nach einem langen Tag – die Isomatten sind für die Nacht bereits ausgerollt.
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Auf der Dodekanes-Insel Kalymnos, wo es noch Fisch- statt Touristenschwärme gibt, lockt der „Sun Trek“. Es ist eine der wildesten Kraxeltouren im Mittelmeer.
Günter Kast (Text und Bilder)
29 Grad, nicht ein einziger Wolken-Fussel am Himmel, sanfte Brise. Wie gemacht zum Nichtstun. Aber nein, Körperertüchtigung muss sein, auch im Urlaub. Und deshalb stehen wir jetzt an einem Felsabbruch. Dahinter, darunter ein veri-tables Nichts. Kletterkarabiner klicken, Bergführer Andi und seine Kollegin Steffi reden in beruhigendem Tonfall auf uns ein. „Todsicher“ sei ihre Abseil-Technik. Klingt ein bisschen wie „sicherer Tod“, wenn man die Buchstaben etwas verrührt. Die noble Blässe in unseren Gesichtern kontrastiert scharf mit den farbigen Kletterhelmen. Aber für einen würdevollen Rückzug ist es jetzt zu spät.
Wer wagt, gewinnt
Das wird gehen, rede ich mir ein. Vorsichtig linse ich über den Abgrund. Das Seil fliegt zuerst. Es fliegt verdächtig lange und schlägt mit einem Klatschen auf. Die 60 Meter werden höher und höher. Ich muss. Ich muss nicht. Richtig, ich muss ja gar nicht. Ich könnte auch kneifen. Vor mir lauert der Tod, hinter mir die Schande. Der Kopf will, aber der Bewegungsapparat verweigert gerade den Dienst. Als ich mich mit der Schande anzufreunden beginne, startet Andi einen Countdown: „fünf, vier …“. Hätte er nicht wenigstens bei zehn anfangen können? Bei „eins“ lehne ich mich nach hinten, taumle ins Leere.
Von den ersten Sekunden fehlt jede Erinnerung – ausgelöscht vom Adrenalin-Rausch. Noch immer sind da 50 Meter mediterran-würzige Luft unterm Hintern. In der Magengegend zieht es. Erst die zweite Hälfte findet eine Schnittmenge mit dem Wort Genuss. Ich winke und versuche, zu grinsen. Es sieht etwas dämlich aus. Dann: fertig machen zur Landung – in einer Grotte groß wie ein Flugzeug-Hangar. Vom Höhlendach hängen Tropfsteine, Stalaktiten. Ich entdecke eine Feige, deren Wurzeln sich in den nackten Fels krallen. Wo findet Ficus hier nur Wasser? Vielleicht wurde auch sie ein wenig gegen ihren Willen abgeseilt.
Andi und Steffi schmunzeln, als alle heil unten sind. Wer mit Gästen sechs Tage lang eine wild zerklüftete Insel durchstreifen will, deren einzige plane Fläche der Flugplatz ist, tut gut daran, seine Schäfchen am ersten Tag einem kleinen Test zu unterziehen. Von einer großen Mutprobe zu sprechen, wäre allerdings eine Übertreibung auf einem Eiland, das für ambitionierte Sportkletterer aus der ganzen Welt zu einer zweiten Heimat geworden ist, und wo jeden Oktober ein großes Festival für die Freunde der Vertikalen stattfindet. Tausende Routen gibt es, viele in den oberen Schwierigkeitsgraden, genug für mehrere Leben.
Italienische Kletterer hatten in den 1990er Jahren das enorme Potenzial der Dodekanes-Insel entdeckt: Sonne bis weit in den Oktober hinein, griffiger Fels, in den Routen meist das tiefblaue Meer vor Augen. Massouri, das kleine Dorf an der Westküste, wurde zum Epizentrum der Bewegung, vergleichbar mit Arco oder Finale Ligure in Italien. Gebräunte, drahtige Körper prägen das Straßenbild.
Seil statt Schwamm
Die Spinnenmenschen sind die neuen Helden von Kalymnos. Sie machen die Stein-reiche Insel tatsächlich ein bisschen steinreich. Der Boom kam gerade rechtzeitig. Denn das Geschäftsmodell der alten Helden – „Schwamm drüber“ und „Petri Heil“ – funktionierte nicht mehr. Früher gab es zum Auswandern nur zwei Alternativen: mit dem Boot rausfahren, um Tune und Schwertfische zu fangen, oder rausfahren, um in hundert Meter Tiefe mit schweren Anzügen nach gelbbraunen Schwämmen zu tauchen. „Damals waren es 120 Schiffe, die zum Schwammtauchen ausgelaufen sind, heute gibt es noch fünf“, erzählt John Magriplis, der in Massouri einen Großhandel für Naturschwämme betreibt. „Die junge Generation mag nicht mehr. Es ist harte Arbeit und gefährlich obendrein.“ Sein Englisch ist amerikanisch eingefärbt, früher reiste er oft in die USA, um seine Badeschwämme zu verkaufen. Heute führt sein Schwiegersohn Nick die Geschäfte, doch das „älteste Gewerbe der Insel“ werde wohl aussterben. Er hat deshalb umgesattelt, vermietet Zimmer an Spider-Man und -Woman.
Trekking plus
Weil wir die Generalprobe bestanden haben, geben Steffi und Andi das „Go“ für einen mehrtägigen Trek durch den fingerförmigen, weltfernen Nordteil der Insel, wo keine einzige Straße die karge Landschaft durchschneidet und sonst nur Ziegen unterwegs sind.
Die Buchten, in denen wir biwakieren wollen, sind lediglich vom Meer her zugänglich oder über lange Fußmärsche auf zugewachsenen Hirtenpfaden. Farbtupfer als Wegmarken sind rar, meist sind sie verblasst, nur selten helfen aufgeschichtete Steinmänner weiter. „Trekking plus“ könnte man das nennen. Wofür das „plus“ steht, lernen wir schon bald: Die ach so wohlduftende Macchia setzt uns ganz schön zu. Mickrige, dürre Äste bieten nur dürftigen Halt beim vorsichtigen Hinuntertasten. Wehe, man greift in die Stechpolster oder fällt gar hinein. Blut rinnt, Kratzer und rote Pusteln zieren Waden und Arme. Loses Geröll frisst die Konzentration auf, macht müde, zerrt an den Nerven. Kein Baum, das Wasser wird knapp, Hitzschlag droht.
Da ist der schattige Canyon, dessen Steilstufen unser „Swinger-Club“ jetzt zum Abseilen nutzt, schon fast willkommen. Ganz routiniert geht das freischwebende Baumeln inzwischen, das Herz hüpft nur noch halb so wild. Und dann schlägt es plötzlich Purzelbäume. Denn so einen Strand muss man selbst in der Karibik erst einmal finden: glasklares Wasser, so türkisfarben und wertvoll leuchtend wie Halbedelsteine. Nichts wie raus aus den dampfigen Wanderschuhen, rein ins erfrischende Meer. Salziger Schweiß vermischt sich mit dem Salz des Ozeans. Völlig allein sind wir hier – all exclusive statt all inclusive wie auf der geschäftigen Nachbarinsel Kos. Als Parfum dient uns wilder Thymian, den wir zwischen den Fingern zerreiben.
Sorgfältig ausgetüftelt
Abends sitzen wir um ein Feuer aus Treibholz, lassen uns griechische Happen und Bier schmecken, die ein Skipper mit seinem Boot auf Vorbestellung angeliefert und trotz der starken Dünung trocken angelandet hat. Ein wenig Luxus darf nach so einem Tagwerk schon sein.
Andi erzählt, wie er und sein Bergführerkollege Erwin überhaupt auf die Idee kamen, diesen „Sun Trek“ auszutüfteln. Der wohl berühmteste Küstenweg im Mittelmeer, der Selvaggio Blu auf Sardinien, sei inzwischen stark überlaufen. Zudem hätten immer wieder Stammgäste angefragt, ob es im östlichen Mittelmeer nicht einen ähnlich spektakulären Kraxelpfad gebe. „Es lag nahe, danach auf Kalymnos zu suchen, das Erwin als Kletterer gut kennt“, sagt Andi. In Gedanken und mit dem Finger auf der Karte entwickelten sie eine Route, verbanden Etappen miteinander, integrierten den kurzen Klettersteig oberhalb von Massouri, den ein Franzose eingerichtet hatte, den aber nur selten jemand benutzte.
Manchmal half das Glück: Wenn es nicht weiterzugehen schien, fand sich ein Überhang mit festem Fels, über den man abseilen konnte. Die Haken und Standplätze dafür haben sie alle selbst mit der „Hilti“ eingebohrt, an exponierten Passagen Fixseile verlegt – ein Knochenjob im trockenheißen Kalymnos-Klima. „Wir waren ganz schön frech“, erinnert sich Andi. „Bei der ersten Tour spazierten wir quer durch ein Nonnenkloster. In kurzen Hosen macht man das natürlich nicht. Jetzt gehen wir brav außen herum.“
Später sucht sich jeder seinen Schlafplatz unterm Sternenzelt. Tiefe Gespräche entstehen da, ganz weit weg von jeglichem Mobilfunknetz. Die Welt präsentiert sich ruhig und friedlich. Zumindest für uns Touristen. Weniger für die Einheimischen. Zur Finanzkrise gesellte sich die Flüchtlingskrise, das türkische Festland ist hier in Sichtweite. Auf dem Höhepunkt der Welle 2016 kenterten zwei Schlepperboote vor Kalymnos, viele Menschen ertranken. Es ist gut möglich, dass ihre Leichen genau hier angeschwemmt wurden, wo wir jetzt die Schlafsäcke ausrollen und das einfache Leben loben. Man könnte sagen, es ist hier brutal schön.
Fels mit Ausblick
Anderntags kämpfen wir wieder mit dem Karst. Der ist zwar griffig, wer jedoch auf dem scharfkantigen, erodierten Gestein doch einmal ausrutscht, riskiert Verletzungen, die an einen bösen Haiunfall erinnern. Keine 20 Meter über dem tosenden Meer führt der Nicht-Weg entlang. Unter uns schlagen Wellen gegen die Felsen. Jeder Schritt will wohlgesetzt sein. Trekkingstöcke, die in Felsspalten steckenbleiben, hauchen hier ganz schnell ihr Leben aus. Und wohl auch das ihrer Besitzer. Kein Seil beruhigt auf den ausgesetzten Passagen die Psyche. Vorsichtig drücken wir uns auf Felsbändern die Wand entlang, hangeln uns an morschen Wurzeln nach oben. Als Lohn gibt es Ausblicke, die kein Hideaway dieser Welt bieten kann. Und jeden Tag neue traumhafte Badebuchten.
Super Straße, zartes Zicklein
Später sausen wir wieder die Seile hinunter, diesmal zur Bucht von Palionissi. Bis 2008 war sie nur über einen holprigen Feldweg zu erreichen. Dann spendierte Brüssel eine halbe Million Euro, und der einzige Wirt, Nikolas Makarounas, bekam seine Prachtstraße, für die er so lange gekämpft hatte. Leider liegt seine Taverne 150 Meter vom Strand entfernt – offensichtlich zu weit für die gehfaulen „Yachties“, die hier vor Anker liegen.
Das Geschäft machen jetzt die neuen Lokale direkt am Wasser. Nikolas hat sich damit abgefunden. Wenn keine Gäste kommen, isst er sein wunderbar zartes Zicklein eben selbst. Und schimpft ein bisschen über die Straße. Wir stimmen und prosten ihm zu. Noch so ein Asphaltband braucht hier niemand. Denn dann wäre es bald vorbei mit der heiligen Ruhe auf dem „Sun Trek“.

Bergführerin Steffi sorgt dafür, dass alle ihre Schäfchen am Abend wieder sicheren Boden unter den Füßen haben.
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Nicht auf alle Haken ist Verlass.
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Abseilen in einen Canyon
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