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Reportagen

Georgien

 Gergetier Dreifaltigkeitskirche (Region Mzcheta-Mtianeti)

Vor dem Hintergrund des gewaltigen und steil ansteigenden Bergmassivs des Kasbek erhebt sich auf einem grünen Hügel die Gergetier Dreifaltigkeitskirche (Region Mzcheta-Mtianeti). Die georgisch-orthodoxe Kuppelkirche ist mit Ornamenten verziert und erzeugt zusammen mit den quadratisch behauenen Steinen der Fassade ein eindrucksvolles Bild.

© Adobe Stock/DmytroKos

Konzert- und Ausstellungshalle in Tiflis

Die aus zwei Glasröhren bestehende Konzert- und Ausstellungshalle in Tiflis

© Lilo Solcher

Das Reiterstandbild zeigt König Wachtang I. Gorgassali auf seinem Schlachtross.

Das Reiterstandbild zeigt König Wachtang I. Gorgassali auf seinem Schlachtross.

© Lilo Solcher

Weingut Schuchmann in Kachetien

Weingut Schuchmann in Kachetien

© Lilo Solcher

Die Burg Ananuri liegt oberhalb des Schinwali-Stausees.

Die zur Festung entwickelte Burg Ananuri liegt oberhalb des Schinwali-Stausees (auch Jinvali oder Shinvali übersetzt), etwa 60 km von Tiflis entfernt, am Ufer des Flusses Aragwi.

© ITER Georgien

Das georgische Alphabet mit seinen seltsamen Buchstaben ist immaterielles Kulturerbe der Menschheit. Und auch sonst hat sich das Land viele kulturelle Eigenheiten bewahrt.

Lilo Solcher (Text und Bilder)

Wenn Georgien im Oktober Gastland der „Frankfurter Buchmesse“ (10. bis 14. Oktober) sein wird, werden diese 33 Buchstaben, die aussehen wie eine Mischung aus ägyptischen Hieroglyphen, kyrillischen Zahlen und kindlicher Zeichenschrift, symbolisch für das Land stehen, das sich zwischen den Kontinenten einen ganz eigenen Charakter bewahrt hat. „Georgia – Made by Characters“ ist das Motto  auf der Messe, wo das kaukasische Land die Besucher an seiner großen literarischen Tradition – und seiner leidvollen Geschichte – teilhaben lassen will. 

„Die Gegenwart ist die Fortsetzung der Geschichte seit der Oktoberrevolution“, hat die in Berlin lebende georgische Schriftstellerin Nino Haratischwili in einem Interview zu ihrem großartigen Roman „Das achte Leben (für Brilka)“ gesagt. Es wird Zeit, die georgische Gegenwart kennenzulernen. Wir haben uns schon mal in dem schönen Land umgesehen, das als der Schlüssel zum Kaukasus gilt und bis heute viele Extreme in sich vereint.

Eifrig Schritt halten

Da ist die Hauptstadt Tiflis oder Tbilissi, wie die Georgier sie nennen. Das „Paris des Ostens“ zeugt vom unbedingten Willen der Mächtigen, Schritt zu halten mit dem Fortschritt. Die Moderne tobt sich am Europa-Platz aus: Über den Mtkwari-Fluss führt die geschwungene Friedensbrücke, 150 Meter lang und nur für Fußgänger, die am Abend dank LED-Leuchten zu einer Welle aus Licht wird. Die Konstruktion aus Stahl und Glas, entworfen von dem italienischen Designer und Architekten Michele De Lucchi, nennen die Georgier  ob ihrer Form spöttisch „Always Ultra“. „Champignon“ sagen sie zu einem anderen Gebäude, das ein Ministerium beherbergt, und wie zwei kommunizierende Röhren ragt die Konzert- und Ausstellungshalle in den Skulpturenpark. Auch die Seilbahn auf den Sololaki-Berg mit der Fes-tung Nariqala wurde rundum erneuert: Leitner-Gondeln bringen heute Fußlahme zur Aussichtsplattform. Gleich nebenan thront hoch über der Stadt die gigantische Kartlis Deda, die „Mutter Georgiens“, in Aluminium gekleidet und 1958 zur 1500-Jahr-Feier der Stadt aufgestellt. Wehrhaft zeigt sie sich mit einem Schwert in der Rechten und gastfreundlich mit einer Schale Wein in der Linken. Am Rand des Weges Stände mit Souvenirs, Frauen, die Blumen zu Kränzen winden, Touristen mit Selfie-sticks und solche, die sich fürs Foto traditionelle Klamotten ausleihen. Ebenfalls von oben zu sehen ist der neoklassizistische Palast, den sich Ex-Präsident Saakaschwili auf dem gegenüberliegenden Höhenzug hingestellt hat. Mit der Kuppel ähnelt der Regierungssitz ein bisschen dem Berliner Reichstag. Gigantomanie auch beim Kirchenbau: Die Sameba-Kathedrale im armenischen Viertel ist der größte Sakralbau Transkaukasiens. 

Heiße heilende Quellen

Der Weg hinunter führt zum Bäderviertel Abanotubani mit den charakteristischen Kuppelbauten über den warmen Quellen. Sie gaben Tbilissi den Namen. Zur Gründung der Stadt erzählen die Einwohner gerne eine Sage: Im fünften Jahrhundert soll der georgische König Wachtang I. Gorgassali (Wolfshaupt) in dem Gebiet der heutigen Stadt gejagt haben. Er traf einen Falken. Doch das angeschossene Tier entkam und flüchtete in eine der heißen, sprudelnden Quellen, die seine Wunde heilten. Und so beschloss der König, hier seine neue Hauptstadt zu errichten. Sein Denkmal, ein Reiterstandbild,  steht vor der Metechi-Kirche, wo einstmals die georgischen Könige residierten.

Überhaupt die Kirchen. Seit Georgien unabhängig wurde, wurden die meisten wieder instand gesetzt, und die Gläubigen strömen wieder dahin, wo sie sich Erlösung erhoffen. „Heimat, Sprache und Religion waren für uns Georgier immer wichtig“, sagt Nino Bregvadse, die schmale 26-jährige Deutschlehrerin, die ihr Geld mit Führungen verdient. Zentrum des Glaubens ist die Sioni-Kathedrale, Hauptsitz des mittlerweile 84-jährigen Patriarchen der georgisch-orthodoxen Apostelkirche, der  „wichtiger ist als viele Politiker“, so Nino. Es geht erst ein paar Stufen hinunter, ehe man in den Kirchenraum eintreten kann, wo die Gläubigen das Weinrebenkreuz der heiligen Nino verehren, jener jungen Frau, die im frühen vierten Jahrhundert das Chris-tentum nach Georgien brachte und deren Namen georgische Frauen bis heute tragen. 

Die Kirche liegt mitten in der Altstadt. Der Charme kleiner Gassen, die schönen Balkone an oft windschiefen Häusern, von denen der Putz bröckelt, die kleinen Lokale und winzigen Läden haben sie zum Hotspot der Globetrotter und Kneipengänger gemacht. Nicht nur in der Chardinstraße erinnert Tiflis an Paris, auch entlang des Flusses, wo Maler ihre Staffeleien aufgestellt haben und Trödler ihre Waren feilbieten. Und natürlich am Rustaveli-Boulevard mit dem Parlamentsgebäude, Schauplatz der Rosenrevolution, die zum Rücktritt von Präsident Eduard Schewardnadse führte und Michail Saakaschwili an die Macht brachte, die er vor vier Jahren an Giorgi Margwelaschwili abgeben musste, der – anders als sein Vorgänger – eine russlandfreundliche Politik verfolgt.

Schwierige Freundschaft

Doch für Georgien ist Russland ein schwieriger Freund, auch wenn auf dem Kreuzpass seit 1983 ein Denkmal zu Ehren der 200 Jahre alten russisch-georgischen Freundschaft steht. Das etwas in die Jahre gekommene Halbrund wird gerade aufgefrischt. Dahinter ballen sich dunkle Wolken wie ein Symbol dieser, wie Nino meint, eher einseitigen Freundschaft. Sie basiert auf dem Vertrag von Georgijewsk. 1783 riefen die von Persern und Osmanen bedrängten Georgier den – christlichen – Nachbarn Russland zu Hilfe. Die militärische Hilfe blieb allerdings aus.  1795 eroberte der persische Schah Tiflis und ließ es zerstören. Erst nach drei Schlachten intervenierte das russische Reich, und sechs Jahre später annektierte der Zar das Nachbarland. Drei Jahre war Georgien nach dem Sturz des Zaren unabhängig, ehe die Rote Armee das Land der UdSSR einverleibte. So kam es, dass der schlimmste Schlächter der UdSSR ein Georgier ist: Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin. 

Die erneute Unabhängigkeit wurde 1991 erklärt. Deutschland war das erste Land, das die demokratische Republik Georgien anerkannte und eine Botschaft eröffnete. Seither sucht Georgien die Nähe zum Westen, zur Europäischen Union. Und Europa? Reklamiert die Mythen von Prome-theus und dem Goldenen Vlies als europäisches Erbe. Doch sowohl das mythische Kolchis, Heimat des goldenen Vlieses, als auch der Kasbek, jener Berg, an den Prome-theus geschmiedet worden sein soll, nachdem er den Menschen das Feuer gebracht hatte, liegen in Georgien, dem Land zwischen den Kontinenten.

Rustikales Geschmackserlebnis

Nicht einmal der Wein ist eine europäische Erfindung. Seit 7000, wenn nicht sogar 8000  Jahren schon reift georgischer Wein in Tonamphoren, den Qvevris  – bis heute. Auf der kachetischen Weinstraße im Osten Georgiens kommt man der „Wiege des Weinanbaus“ ganz nahe. Weinberge, wohin man schaut. Hier gedeihen Rkatsiteli, Krakhuna,  Zindali oder Saperavi, die traditionellen Rebsorten des Landes, aber auch Merlot, Dornfelder, Chardonnay und Riesling. Kleine Weingüter haben in der Gegend überlebt, wo seit Generationen nach quasi uralten Methoden gekeltert wird, manche nicht größer als Schrebergärten. Die getöpferten Qvevris können bis zu 2000 Liter fassen, sie werden im Boden versenkt und können dort die Jahrhunderte überdauern. Traditionsgemäß wird der Most in den Amphoren mit der Maische vergoren, und der Wein reift ohne künstliche Zusätze. Das Ergebnis ist ein für europäische Gaumen eher rustikales Geschmackserlebnis. Trotzdem wussten die Russen den georgischen Wein zu schätzen. Doch als Putin 2006 ein russisches Embargo gegen georgische Produkte erklärte, brachte das die Winzer an den Rand des Ruins. Die Weinbauern wandten sich dem Westen zu. Eine Chance für Leute wie  Burkhard Schuchmann, lange Jahre  Vorstandschef des Bahntechnik-Herstellers „Vossloh“. Der Dortmunder hat sich vorgenommen, georgischen Wein in seiner Heimat populär zu machen. 

Dass er sein Weingut in Kachetien eröffnete, war einer Eisenbahn-Konferenz geschuldet. Der Manager lernte georgische Winzer kennen, verliebte sich in das Land, kaufte 100 Hektar Rebenäcker und baute 2006 – im Jahr des Embargos – den Betrieb auf. 100 Tonkrüge mit je zwei Tonnen Fassungsvermögen stehen für die traditionelle Produktion Vinoterra  zur Verfügung, in zwei Millionen Flaschen wird Wein nach europäischer Art und für den europäischen Geschmack verkauft. Schuchmann ist erfolgreich, 2010 hat er im Weingut ein Hotel eröffnet, wo die Gäste mitten im Weinberg in den Pool springen können. Seit Neuestem produziert das Gut auch Winzersekt nach Champag-nerart, der letzte Jahrgang ist schon ausverkauft. 

Dass man nicht Deutscher sein muss, um in Georgien Erfolg zu haben, beweist Zurab Schewardnadse, ein Neffe von Eduard Schewardnadse. „Gardenia“ heißt sein Projekt, ein großer Garten mit Café im Außenbezirk von Tiflis. Vor zehn Jahren hat der studierte Biologe mit dem Gärtnern angefangen. „168 Kilogramm Müll mussten wir entsorgen,“ erzählt der 38-Jährige mit leicht rheinländisch gefärbtem Akzent. Er hat im Botanischen Garten in Bonn das Gärtnern gelernt und seine „Kunst“ mit nach Hause gebracht. „Denn in Tiflis“, so Schewardnadse, „gab es damals keinen einzigen Gärtner“. Also gründete er in der georgischen Hauptstadt eine Gärtnerschule und ließ Gärtner als Beruf registrieren. 30 Mitarbeiter sind inzwischen „mit ganzem Herzen dabei“ – so wie der Chef. Und jedes Jahr fährt der ganze Betrieb einmal nach Deutschland, zur Inspiration. 

Das kleine Paradies vor den Toren von Tiflis kostet Eintritt. „Wir brauchen das Geld, um selbstständig zu bleiben“, erklärt Schewardnadse, der durch seine Gartensendungen in Georgien populär ist. „In Georgien müsse man improvisieren“, sagt der Fernseh-Gärtner, der am liebsten das deutsche duale Bildungssystem importieren würde. Ob da nicht die Politik die Weichen stellen müsste? Schewardnadse winkt ab. „Ach diese Politik“, seufzt er, und räumt ein, dass es die Politiker in der Postsowjet-Ära schwer hatten und heute noch haben, das Land zu regieren.

Hotspot bei Globetrottern 

Doch an Touristen mangelt es nicht in Georgien. Längst steht das einstige Sehnsuchtsland im Osten und auch Tiflis auf der Bucket-List der Globetrotter aus aller Welt. John Steinbeck, der 1948 gemeinsam mit Robert Capa für sein Buch „Russische Reise“ auch in Georgien war, würde das nicht wundern. Für den Literaturnobelpreisträger war Georgien etwas Besonderes, so wunderbar, dass er tatsächlich zu glauben begann, „dass die meisten Russen hoffen, wenn sie ein sehr anständiges und tugendhaftes Leben führen, kommen sie nach ihrem Tod nicht in den Himmel, sondern nach Georgien.“