Newsletter

Reportagen

Bauhaus im Powder

„Hôtel des Dromonts“ in Avoriaz

Das stylische „Hôtel des Dromonts“ in Avoriaz wurde bereits 1964 eröffnet.

© Avoriaz Tourisme/Hôtel des Dromonts

Snowpark von Avoriaz

Snowpark von Avoriaz

© Avoriaz Tourisme/Guy Miller

Das autofreie Resort in Avoriaz

1969 öffnete Avoriaz als das erste autofreie Resort der Alpen.

© Avoriaz Tourisme/Oreli.b

Moderne Kunst im Skisportort Flaine

Moderne Kunst zog Ende der 1960er Jahre ins Zentrum des Skisportortes Flaine, wo Werke von Vasarely, Dubuffet und Picasso zu bestaunen sind.

© Nicola Förg

 

Skivergrnügen in Flaine

Skivergrnügen in Flaine

© M. Dalmasso

Architektur in Avoriaz

Klar, urban, aber mit den Materialien der Umgebungt: Architektur in Avoriaz

© Avoriaz Tourisme/Stéphane Lerendu

Liegestühle mit Bergblick im Alpenresort Avoriaz

In dem Alpenresort Avoriaz kann man beim Sonnenbaden in Liegestühlen die Bergkulisse bewundern.

© Avoriaz Tourisme

 

Ski-Frankreich wird oftmals gerügt wegen mangelnder Alpenromantik und wegen seiner Hochgebirgs-Hochhäuser. Aber genau das ist seine tiefe Seele!

Nicola Förg (Text)
 

Er war ein Held, dieser Jean Vuarnet, ein Junge aus Morzine, der 1960 in Squaw Valley die Abfahrts-Goldmedaille gewonnen hatte. Aber irgendwie musste ihn der Ruhm wohl in den Wahnsinn getrieben haben, dachten die Leute in Morzine. Er wollte nämlich allen Ernstes in Avoriaz eine Skistation bauen.

Dort oben, wo im Sommer die Hirten um ihre Tiere fürchteten, weil sie immer wieder über die steilen Felsklippen gestürzt waren. Wo Winde tobten und Berggeister hausten. Zwar fuhren kühne Burschen wie Jean dort Ski, Gott und die Berge zu versuchen, das war deren Sache. Aber ein Resort so hoch hinauf zu bauen? Dennoch: Jean war überzeugend, am 28. Dezember 1962 erlaubte Morzine den „Prospektoren“ zu bauen. Und sie bauten klar, urban, aber mit den Materialien der Umgebung: Stein und Holz. Bis heute kühn. 1969 öffnete Avoriaz als das erste autofreie Resort der Alpen, und bis heute fahren nur Ratraks und Pferdekutschen. Avoriaz hat eine Kläranlage in Morzine, sämtliche Heizsysteme waren und sind elektrisch. Vuarnet wollte die Natur schützen, trotz der 16.900 Betten. Anfangs waren es die Engländer, die auf der kühnen Klippe auftauchten und mit ihnen die Chalet-Girls; nichts Anzügliches: Die Mädels kochten in den Appartements für ihre britischen Landsleute. Fish’n Chips im Land von Haute Cuisine und Croissant. 

Moderne Kunst trifft auf Skizirkus

Ortswechsel nach Flaine: Eric Boissonnas war ein Geophysiker, der nach 14 Jahren USA zurückkam ins Grand Massif: In den Staaten war moderne Kunst omnipräsent, im alten Europa mit all seinen altehrwürdigen Relikten fast ein bisschen unanständig. Das war 1959, und er hatte die Idee, etwas zu bauen, das Architektur, Kunst und Natur verbindet. Flaine, ein Kulturprojekt, dort, wo bislang Schafe Gras gezupft hatten. Flaine auf 1600 Metern, ein kleines Tal, das in Ost-Westrichtung liegt und eben diese perfekten Ski-Nordhänge hat und die Südlagen für die Häuser. Als Architekten gewann der Geo-physiker Marcel Breuer, einen der ganz Großen der Bauhaus-Ära. Die euphorischen Visionäre begannen – und 1963 und 1964 war schon wieder Schluss. Keine Genehmigung für eine Zufahrtsstraße für all die Baumaschinen! Man stelle sich vor: Drei Jahre lang wurde alles über eine windige Seilbahn transportiert – ihre Ruine steht noch heute, ein Mahnmal für große Gedanken und menschliche Beharrlichkeit. Offiziell öffnete man 1968 an Weihnachten. Vasarely, Dubuffet und Picasso trugen Werke bei, die bis heute dem Schneesturm trotzen. 

Pisten fressen statt geniessen

In den 1980er Jahren boomte Ski-Frankreich bei den Deutschen. Es ging darum, um 9 Uhr am ersten Lift zu stehen und den letzten Verbindungslift zu erwischen. Gerade noch, bevor das Drehkreuz schloss. Zu Zeiten, als man noch Skipässe mit dem eigenen Konterfei umhängen hatte. Die Appartements bewohnte man nach dem Motto: Ein Chalet für offiziell sechs Personen beleben die Franzosen zu acht! Die Italiener zu sechst, die Deutschen maximal zu viert – so eng waren sie. Effizient geplant mit Stockbetten, und wer in Bett sechs schnarchte, lag leider vor der Toilettentür. 

Der Fokus lag auf dem „Pistenfressen“. Auch beim jungen Architekturstudenten Knut Prill, der aber damals schon anders hinsah: Die Bauherren hatten rechte Winkel ignoriert und die Dachneigungen so adaptiert, dass der Schnee abgleiten konnte. Sie hatten verhalten gebaut und versteckten rhythmische Fassaden in den Klippen, folgten deren Ausrichtung. „Ich war fasziniert von den Schindeln, der gezackten Individualität im Hochhausformat, und schon damals spürte ich: Es ist kein vertikaler Ballermann.“ 

2017 kam Prill, nun selbst etablierter Architekt im Schongau,  wieder in die Portes du Soleil, zu den Pforten der Sonne. Die Skier waren nun Carver, der Anspruch nicht mehr hochsportlich. „Ich nahm viel klarer als in den Achtzigern wahr, dass es ohne große Klimmzüge gelungen ist, jedem Zimmer eine eigene Aussicht zu geben, jeder Etage einen klitzekleinen Kick zu verpassen, die sie von der darunter oder darüber liegenden Etage unterscheidet. Dieser Ort kann nur dort stehen, wo er steht. Das macht ihn individuell und unvergleichbar. Er erweist bis heute mit den verbauten Materialen der Nachbarschaft seinen tiefen Respekt.

Superlativ der Natur

Muss es auch, denn da stehen sie: die Dents du Midi, die Dents Blanches und natürlich der Berg aller Berge, der Mont Blanc. Er hüllt das Haupt gerne in Wolken, er rötet sich am Abend ganz zart und wirft lange Schatten in die Kare. Diese Tore zur Sonne sind landschaftlich ein Superlativ, ihr Pistenplan ist das auch: Sie haben ein ganzes Büchlein, das in Sektionen eingeteilt ist. So viel ist zu tun … Und Avoriaz ist ein perfektes Basislager für diese Skiexpe-dition. „Es war damals höchstmodern und würde heute in gleicher Weise gebaut werden. Wer kann heute schon von sich behaupten, die Bedürfnisse der Zukunft zu stillen?“, sagt Prill 

Und auch Flaine existiert weiter: Eine fahrende Müllbox in Orange mit gro-ßen Rostflecken schiebt sich noch immer den Berg hoch – ein Schrägaufzug, der zwei Teile von Flaine verbindet. Die überhängende Terrasse des „Le Flaine Hotel“ ist heute ein „monument historique“ – schützenswert sind eben nicht nur gotische Kathedralen. Die Architektur bleibt stoisch und blickt auf das Skifahrervolk. „Zu ameisig und zu unwichtig sind wir, um mit unserem Berg-rauf-runter-Sausen auf neonfarbenen Brettern einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen“, meint Prill. 

Aber umgekehrt hinterlässt das Gebiet Eindruck: Powder satt! „Agate“ heißt eine schwarze Piste, „Fred“ die rote, Nordhänge mit perfekter Schneequalität. Und da ist der unscheinbare Lift „Gers“, der in einer weiten Suppenschüssel aus purem Weiß liegt. Keine Anzeichen mehr von Zivilisation, nur Powderhänge und Buckel, Couloirs und Geländevariationen in allen Neigungen. Kein Beton mehr – nur noch Ewigkeit …