Ganz „lessig“ durch Wolfenbüttel

Infolge der vergleichsweise geringen Kriegsschäden und eines umfangreichen Sanierungsprogramms in den 1970er Jahren wurde in Wolfenbüttel ein nahezu geschlossenes historisches Stadtbild erhalten. Besonders hübsch: die vielen Fachwerkhäuser
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Das Schloss Wolfenbüttel ist das zweitgrößte erhaltene Schloss in Niedersachsen. Lessing bewohnte von 1770-76 fünf Zimmer im 2. Stock.
© Dagmar Krappe
In der ehemaligen Residenzstadt verbrachte der Dichter Gotthold Ephraim Lessing seine letzten elf Lebensjahre und schuf seine bekanntesten Werke.
Dagmar Krappe (Text und Bilder)
Wenn es Gotthold Ephraim Lessing mal wieder langweilig war, dann machte er sich in die Krumme Straße auf. Dort wohnte sein Kutscher, der ihn ins nahe Braunschweig brachte. Über 300 Jahre tobte in der Kleinstadt Wolfenbüttel an der Oker das höfische Leben. „Durch Erbteilung bildete sich im 14. Jahrhundert das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel, zu dem zunächst auch die Stadt Braunschweig gehörte“, erzählt uns Gästeführer Bernd Bethge: „1430 wurde sie unabhängig. Deshalb verlegten die welfischen Landesherren ihre Residenz nach Wolfenbüttel.“
Als Lessing 1770 in den Ort kam, waren die rauschenden Jahrhunderte längst Geschichte. Die Welfen waren nach Braunschweig zurückgekehrt. Mit ihnen zogen 4000 Angehörige des Hofstaates um. In Wolfenbüttel herrschte Tristesse.
Das prächtige Schloss stand verwaist. Hier quartierte man den damals schon recht bekannten Schriftsteller der Aufklärung ein. „In dem riesigen Bauwerk bezog Lessing fünf Zimmer im zweiten Stock. Er war froh, dass er eine feste Anstellung als Hofbibliothekar bekam, denn er war häufig knapp bei Kasse. Liebte Glücksspiele, Wein und kaufte zu teure Bücher“, informiert Bethge, der als „Lessing“ verkleidet Besucher durch die farbenfrohe Fachwerkstadt führt.
Als Hofbibliothekar genug Zeit für Schriftstellerei
Herzog Julius war der große Bauherr der Stadt und gründete 1572 die Biblio-thek. Ihren heutigen Namen „Herzog August Bibliothek (HAB)“ erhielt sie nach einem späteren Herzog namens August dem Jüngeren. Ein echter Bücherwurm. Als er starb, umfasste die „Bibliotheca Augusta“ bereits 35.000 Bände. Das jetzige palastartige Haus entstand Ende des 19. Jahrhunderts. Es ersetzte die baufällige Rotunde, in der Lessing wirkte.
Inzwischen befindet sich in dem Gebäude eine moderne, internationale Forschungsbibliothek. Trotz des immensen Bücherbestands, den Lessing zu verwalten hatte, fand er noch Zeit für die Schriftstellerei und schuf das Trauerspiel „Emilia Galotti“. Neben einem Museum zur welfischen Residenzgeschichte und barocken Hofkultur gibt es ein Gymnasium im Schloss. Lessings Werke sind immer noch aktuell und stehen in den Lehrplänen. „Welche Schüler haben schon das Glück, ein Stück genau an dem Ort zu lesen, wo es geschrieben wurde“, sagt Bethge.
Bevor Lessing nach Wolfenbüttel kam, lebte er in Leipzig, Berlin, Breslau und Hamburg. Angesichts der neuen Festanstellung meinte Lessing: „Ich habe alle Gründe zu hoffen, dass ich hier recht glücklich leben werde.“ Doch er vermisste bald die geistreiche Gesellschaft, die er in den anderen Städten hatte. Deshalb suchte er Freundschaften unter Braunschweiger Gelehrten. In Hamburg hatte er die verwitwete Kauffrau Eva König kennengelernt. 1776 heirateten sie und wohnten zusammen mit Evas drei Kindern im Meißnerhaus gegenüber vom Schloss. In diesem Gebäude verlebte Lessing das glücklichste Jahr seines Lebens.

Gotthold Ephraim Lessing, Gemälde von Anton Graff (1771)
© Wikimedia Commons/gemeinfrei/Kunstsammlung der Universität Leipzig/www.uni-leipzig.de/cumpraxi/studium.html

Gästeführer Bernd Bethge am Nathan-Denkmal vor dem Lessinghaus
© Dagmar Krappe

Im Meißnerhaus, gegenüber des Schlosses, verbrachte Lessing von 1776-77 mit seiner Frau Eva König und Evas drei Kindern sein glücklichstes Jahr. Just nach dem Umzug der Familie ins Schäffersche Haus wird ihr Sohn Traugott geboren. Doch Kind und Mutter sterben beide
kurz hintereinander nach der Geburt.
© Dagmar Krappe
Dann zog die Familie ins Schäffersche Haus, dem heutigen Museum „Lessinghaus“. Kurz nach dem Umzug wird Sohn Traugott geboren. Er verstirbt nach einem Tag und auch seine Mutter zwei Wochen später an Kindbettfieber. Im Sterbezimmer richtet sich der Autor sein Arbeitszimmer ein und bringt dort sein bekanntestes Werk, das Toleranzdrama „Nathan der Weise“, zu Papier. Zwischen dem ehemaligen Wohnhaus und der Bibliothek steht „Nathan“ als über drei Meter hohe Bronzeskulptur.
Würde der echte Lessing noch einmal durch Wolfenbüttel schlendern, würde er bis auf die Bibliothek noch vieles wiedererkennen. Die gesamte Altstadt ist nahezu auf dem baulichen Stand des 18. Jahrhunderts. Von den dicht aufeinander folgenden Hauptplätzen könnte Lessing die Pracht der 600 renovierten Fachwerkhäuser genießen. Vom Schlossplatz führt die Route zum Stadtmarkt mit dem schmucken Rathaus. In der Nähe des Kornmarkts dominiert die Hauptkirche „Beatae Mariae Virginis“. Es ist der weltweit erste protestantische Großkirchenbau nach der Reformation.
Um auf Lessings Spuren nach Braunschweig zu gelangen, nimmt man natürlich nicht mehr die Kutsche, sondern das Fahrrad. Am Lessingplatz wartet Gästeführerin Gabriele Herzig mit ihrem Drahtesel. Als der Dichter hier unterwegs war, erstreckten sich links und rechts des Pfads Gemüsefelder. „Noch im 19. Jahrhundert war die Gegend eines der größten Gemüseanbaugebiete Norddeutschlands. Aus den meisten Anbauflächen wurde Bauland“, berichtet Herzig. Ein kleines Museum und ein Denkmal vor der auf den Resten eines früheren Stadttors errichteten Sankt Trinitatis-Kirche am Holzmarkt erinnern an diese Zeit. Direkt hinter dem rosafarbenen Barock-ensemble schließt sich ein öffentlicher Park an. Auf dem einstigen Bürgerfriedhof bestattete man Eva König, aber das Grab existiert nicht mehr. 1929, zu Lessings 200. Geburtstag, setzten die Stadt Wolfenbüttel und Nachkommen Eva Königs ihr einen Gedenkstein.
Mit dem Rad von Wolfenbüttel nach Braunschweig
Die 16 Kilometer lange Tour nach Braunschweig ist Teil des Weser-Harz-Heide-Radfernweges. „Manchmal kam Lessing nur bis zum „Weghaus“ in Stöckheim. Dort stärkte er sich, diskutierte mit einigen Bekannten und trat den Rückweg an“, sagt Gabriele Herzig. Inzwischen ist das Lokal ein türkisches Restaurant.
Entlang der Oker gelangt man zum Südsee und schließlich durch den Braunschweiger Bürgerpark zum Lessing-Denkmal. „Dass es hier und nicht in Wolfenbüttel aufgestellt wurde, hat damit zu tun, dass die Wolfenbütteler sich lange Zeit sehr schwer taten mit ihrem Freigeist, der sich mit Theologen über religiöse Schriften zankte“, erklärt Herzig.
Lessing litt an Herzschwäche und Asthma. Wenn er in Braunschweig weilte, um kluge Gespräche zu führen, Schach zu spielen oder das Theater zu besuchen, wohnte er im Haus des Weinhändlers und Gastwirts Johann Hermann Angott an der Ägidienkirche. Hier starb er mit nur 52 Jahren an einem Lungenödem. Beigesetzt wurde er auf dem nahen Magnifriedhof. Sein Grab galt lange als verschollen. Carl Schiller, Leiter des Städtischen Museums Braunschweig, entdeckte es 50 Jahre nach der Beisetzung wieder. Das jetzige Grabmal stammt von 1874.
Heute wissen die Wolfenbütteler sehr wohl, was sie ihrem streitbaren Dichter zu verdanken haben und nennen ihren Ort ihm zu Ehren „Lessingstadt“.