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Reportagen

Die Jugendstilperle

Die Russische Kapelle auf der Mathildenhöhe in Darmstadt ist im Stil russischer Kirchen des 16. Jhs. gehalten und der Heiligen Maria Magdalena geweiht. In dem auf importierter russischer Erde errichteten Sakralbau finden noch immer orthodoxe Gottesdienste statt.

Die Russische Kapelle auf der Mathildenhöhe in Darmstadt ist im Stil russischer Kirchen des 16. Jhs. gehalten und der Heiligen Maria Magdalena geweiht. In dem auf importierter russischer Erde errichteten Sakralbau finden noch immer orthodoxe Gottesdienste statt.

© Adobe Stock/Sina Ettmer

Künstlerkolonie-Ausstellung Darmstadt, 1914, Postkarte (Ausstellungsgebäude, Russische Kapelle mit Bassin und Eingangstor zur Künstlerkolonie), Institut Mathildenhöhe, Städtische Kunstsammlung Darmstadt

Künstlerkolonie-Ausstellung Darmstadt, 1914, Postkarte, Institut Mathildenhöhe, Städtische Kunstsammlung Darmstadt

© Institut Mathildenhöhe, Städtische Kunstsammlung Darmstadt

Albin Müllers Eichhörnchen, in der Mosaiknische an der Rückseite des Ausstellungs­gebäudes

Albin Müllers Eichhörnchen, in der Mosaiknische an der Rückseite des Ausstellungs­gebäudes

© Adobe Stock/kathijung

Jugendstil-Portal des Ernst-Ludwig-Hauses in der Künstlerkolonie, das als gemeinschaftliches Ateliergebäude nach Plänen von Joseph Maria Olbrich gebaut wurde, dem einzigen ausgebildeten Architekten und der zentralen Figur in der Künstlergruppe.

Jugendstil-Portal des Ernst-Ludwig-Hauses in der Künstlerkolonie, das als gemeinschaftliches Ateliergebäude nach Plänen von Joseph Maria Olbrich gebaut wurde, dem einzigen ausgebildeten Architekten und der zentralen Figur in der Künstlergruppe.

© Adobe Stock/mojolo

Das in lichtem Grau verputzte Ausstellungsgebäude wurde als „Gebäude für freie Kunst“ eröffnet.

Das in lichtem Grau verputzte Ausstellungsgebäude wurde als „Gebäude für freie Kunst“ eröffnet.

© Jochen Müssig

Die Mathildenhöhe in Darmstadt war eine Hochburg der Jugendstilbewegung mit der Künstlerkolonie um den Wiener Architekten Joseph Maria Olbrich. Allerdings wundert man sich, warum auch eine sehr schöne russische Kapelle zu dem dortigen Architekturensemble gehört …

Jochen Müssig (Text)

Fragt man einen Darmstädter nach der Mathildenhöhe, schaut er einen an, als ob man vom Mond käme. Mathilden-höhe – das reicht alleine nicht. Und die Frage wird zur Gegenfrage: Was genau ist gemeint? Mathildenhöhe bedeutet in Darmstadt das Institut mit wechselnden Ausstellungen, das Museum mit seiner Jugendstilsammlung und das gesamte Ensemble, das sich um den zum Wahrzeichen Darmstadts gewordenen Hochzeitsturm gruppiert, von dem man auf einer Aussichtsplattform auf rund 33 Metern Höhe einen schönen Ausblick hat.

Gestaltung einer neuen Welt

Der Turm wurde bis 1908 zur Erinnerung an die Hochzeit des Großherzogs Ernst Ludwig mit Prinzessin Eleonore errichtet. Er hat sieben Stockwerke mit Bibliothek sowie Zimmer für den Großherzog und die Großherzogin. Der Architekt hieß Josef Maria Olbrich, der 1899 von Ernst Ludwig an die Künstlerkolonie berufen wurde. Der 48 Meter hohe Turm aus Backstein ist ein recht exzentrisches Gebilde mit um die Ecken geführten Fensterbändern und einem eigenwilligen Abschluss mit fünf Bögen, die anmuten, als seien sie Wellen. So sieht es zumindest von der Seite aus. Steht man dagegen frontal vor dem Gebäude, erkennt man leicht eine Hand und ihre fünf Finger. 

„Eine Stadt müssen wir erbauen, eine ganze Stadt! Alles andere ist nichts!“, sagte Joseph Maria Olbrich, einer der treibenden Kräfte der Darmstädter Künstlerkolonie um 1900, zu der sich Paul Bürck, Patriz Huber, Hans Christiansen und andere gesellten, Multitalente, Architekten, Maler, Bildhauer und Kunsthandwerker in einem. Ihr Förderer war der Großherzog. Und in Darmstadt ging es um Größeres als um das Design einer Untertasse. Es ging um die Gestaltung einer neuen Lebenswelt. Anfang des 20. Jahrhunderts galt die Mathildenhöhe als Tempel der Architektur. Sogar Walter Gropius, Mies van der Rohe und Le Corbusier holten sich von dort Inspirationen.

Wichtiges Zentrum für moderne Kunst und Architektur

Im Museum Künstlerkolonie wird dieser Aufbruch seit 1990 dokumentiert. Gezeigt wird ein Querschnitt der entstandenen Werke aller 23 Künstler von der Gründung 1899 bis zur Auflösung 1914, vom Weltentwurf bis zum Design einer Untertasse, die schließlich ein Teil des Gesamten ist. Am 21. Juli 2021 wurde die Mathildenhöhe zum UNESCO-Welterbe ernannt. Die Präsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission, Maria Böhmer, sagte: „Die Mathildenhöhe ist ein weltweit herausragendes Beispiel visionärer Gestaltungskunst.“ Von 1901 bis 1914 sei die Mathildenhöhe eines der wichtigsten Zentren moderner Kunst und Architektur in Europa und der Welt gewesen. Vier internationale Ausstellungen trugen in dieser Zeit dazu bei, Architektur und Design in ein neues Zeitalter zu führen.

Auch das Wohnhaus Joseph Maria Olbrichs existiert noch. Es entstand 1901, und bis zu seinem Tod 1908 lebte der Architekt darin. Heute ist das Haus am Alexandraweg 28 Sitz des Deutschen Polen-Instituts. 

Immerhin rund 60.000 Besucher zählt man jährlich am Ensemble Mathildenhöhe, in dem die Russische Kapelle wie ein Fremdling zwischen Jugendstilgebäuden wirkt. Aber der russische Zar Nikolaus II. heiratete die Darmstädter Prinzessin Alexandra und wünschte während der Besuche ein eigenes Gotteshaus. Die blattgoldbelegten Turmkuppeln und bunt bemalten Kacheln fallen an dem Kirchlein, das  1897 bis 1899 erbaut wurde, besonders ins Auge, ebenso wie die Brunnenanlage Lilien-becken, die 1914 dazu kam. Bis heute finden dort orthodoxe Gottesdienste statt.

Badefreuden in Jugendstilambiente

Abseits der Mathildenhöhe wurde 1909 auch das Darmstädter Stadtbad im Jugendstil erbaut. Es bot getrennte Schwimmhallen für Frauen und Männer sowie Wannen- und Duschbäder für die Teile der Bevölkerung, die keine Badezimmer hatten. Heute erfreut das Jugendstilbad nicht nur mit seinem Dekor, sondern auch mit seinen Angeboten. Aus dem Schwimm- und Wannenbad wurde ein Wellness-Tempel mit Pools, vielfältigen Spa-Angeboten und einer Saunalandschaft auf zwei Ebenen: mit Hamam sowie mehreren Saunen mit 95 Grad (die Finnischen) über die japanische Rosensauna mit 65 Grad bis zum Römisch-irischen Dampfbad mit 45 Grad. Dazu kommen Aktionen wie die Mitternachtssauna mit Aufgusskreationen von 22 bis zwei Uhr morgens oder dem Lichterzauber, wo sanfte Klänge und Kerzen eine zauberhafte Atmosphäre schaffen. 

Übrigens: Die Namensgebung der Stadt Darmstadt hat mit dem menschlichen Verdauungsorgan nichts zu tun. Vielmehr vermutet man, dass sich die älteste Schreibweise „Darmundestat“ aus drei Teilen zusammensetzt: „Dar“ für Tor, „munde“ für Schutz und „stat“ für Stätte, jeweils abgeleitet aus dem Indogermanischen. Darmstadt war also schon sehr früh eine „befestigte Stadt“.