Newsletter

Reportagen

Geschichte mit Zukunft

Religiöser Äthiopier bei den Felsenkirchen in Lalibela

Religiöser Äthiopier bei den Felsenkirchen in Lalibela

© Anton_Ivanov/Shutterstock.com

Die Dorfgemeinschaft trägt einen ihrer Dorfältesten zu seiner letzten Ruhestätte.

Die Dorfgemeinschaft trägt einen ihrer Dorfältesten zu seiner letzten Ruhestätte.

© Michael Juhran

Felsenkirche Bet Giyorgis in Lalibela

Felsenkirche Bet Giyorgis in Lalibela

© Michael Juhran

Äthiopien ist das älteste christliche Land Afrikas. Eine überwältigende Gastfreundschaft, einzigartige sakrale Bauwerke und malerische Landschaften machen vor allem den Norden zu einer faszinierenden Tourismusdestination.

Michael Juhran (Bilder und Text)

Ganz Addis Abeba scheint an diesem Sonntag auf den Beinen zu sein. Familien, Freunde, Bekannte und Verwandte mit ihren Kindern haben aus Palmenblättern geflochtene Kreuze um ihre Köpfe gewunden und stehen plaudernd und erwartungsvoll vor einer der Kirchen der Drei-Millionen-Metropole, um dem Ostergebet im Inneren des Gotteshauses zu lauschen. Schüchtern lächelnd begrüßt man auch an der Erlöserkirche kleine Gruppen europäischer Gäste, die sich neugierig unter die einheimische Bevölkerung mischen. Gern lässt man sich fotografieren, und schnell kommt man in gebrochenem Englisch ins Gespräch. 

»Wir treffen uns oft hier«, sagt Makeda, eine junge Frau, die mit ihren Freundinnen am Brunnen vor der Kirche verweilt, um auf den Festumzug zu warten. »In der äthiopisch--orthodoxen Kirche gibt es 200 Fastentage und viele Feiertage im Jahr. Damit bieten sich ausreichend Anlässe für einen Kirchengang wie diesen.« Tausende haben sich inzwischen auf dem Kirchenvorplatz versammelt, und als der Däbtäras (Kirchensänger) seine Predigt beginnt, bekreuzigen und verneigen sich alle gleichsam. Auffallend viele Jugendliche und Kinder sind darunter, denn Äthiopien ist mit einer Geburtenrate von 4,4 und einem Durchschnittsalter von 16,8 Jahren ein überaus junges Land. Mit etwa 35 Millionen gläubigen Christen beherbergt Äthiopien die größte orientalisch-orthodoxe Gemeinde, während die Nachbarländer Somalia, Eritrea und der Sudan muslimisch geprägt sind.

Keine Hungersnot, aber harte Ernteausfälle

Nur einen Steinwurf von der Kirche entfernt glänzen Glaspaläste von Banken und Einkaufszentren in der Sonne. Addis ist eine Stadt im Umbruch – mehr und mehr Wellblechhütten müssen modernen Häusern weichen und werden an den Stadtrand gedrängt, Märkte und Shopping Malls wetteifern mit ihren Angeboten, und auf dem Weg zum Flugplatz passiert man Villenviertel, die selbst Millionäre in Europa vor Neid erblassen lassen könnten. »Hungersnot gibt es in unserem Land nicht«, erfährt man von einem der zum Osterfest in die Hauptstadt angereis-ten Bauern. »Auch die lange Dürre im Süden forderte keine Menschenopfer, aber viele Nutztiere starben, und manche Bauern haben dadurch ihre Existenzgrundlage verloren.« In Addis kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch hier der Graben zwischen Arm und Reich breiter wird.

Dorfgemeinschaft bietet Zusammenhalt

90 Flugminuten nördlich der Metropole fließen hunderten Dorfbewohnern vor den Toren der Wallfahrtsstadt Lalibela Tränen übers Gesicht. Sie tragen einen ihrer Dorfältesten zu seiner letzten Ruhestätte. Viele Jahre hatte er die Dorfgemeinschaft mit seiner Lebenserfahrung und Weisheit auch in schwierigen Zeiten zusammengehalten. Egal ob bei der Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber der Zentralverwaltung oder bei der Aufteilung des Quellwassers in Dürreperioden, wenn der Wind feinen, grauen Staub über die Landschaft treibt und in schlauchartigen Sandhosen in den Himmel zieht, so als wolle er auch noch die letzten kargen Sträucher entwurzeln. Es hat lange nicht geregnet, und so verscharren die Männer den in ein Tuch gewickelten Leichnam im trockenen, ockerfarbenen Sand. 

Einige der aus benachbarten Dörfern und Weilern herbeigeeilten Trauergäste nutzen die Zeit nach dem Begräbnis für ein Gebet im nur wenige Meter entfernten Mönchskloster von Neakuto Leab, das wie ein Schwalbennest in einer Felsengrotte errichtet wurde. Im sonoren Gebetsgesang des Priesters finden sie Ruhe und Besinnung. Von der Decke der Grotte fallen seit Jahrhunderten Wassertropfen auf bereits tief ausgehöhlte Steine. Ein anderer Priester schöpft das lebenspendende Nass mit einem Becher und reicht es als heiligen Trunk an die Anwesenden, zu denen auch eine kleine Gruppe deutscher Touristen gehört. 

Im Nachbarraum des spartanischen Gemäuers präsentiert Mönch Abben den europäischen Gästen stolz die Klosterschätze. Beschwörend hält er ein kunstvolles Weihkreuz in die Höhe und gewährt den Besuchern Einblicke in eine jahrhundertealte heilige Schrift, gebunden aus Ziegenhaut und illustriert mit zahlreichen farbigen Zeichnungen. Die Erklärungen des Mönchs wecken die Neugier der Angereisten, mehr über die 1700 Jahre alte Geschichte des orthodoxen Christentums in Äthiopien zu erfahren.

Uralte Felsenkirchen

Im 2500 Meter hoch gelegenen Lalibela muss man nicht lange suchen, um die wohl spektakulärsten Zeitzeugen dieser Geschichte zu finden. Elf Felsenkirchen ließ König Lalibela hier im 12. und 13. Jahrhundert tief in monolithisches Basaltgestein meißeln, nachdem er der Legende nach wundersam einen Mordversuch durch seinen Bruder überlebte. Heute gehören diese Kirchen nicht nur zum UNESCO-Weltkulturerbe, sie werden auch weiterhin aktiv von Mönchen, Pries-tern, Diakonen und Gläubigen genutzt, dienen als geistliche und soziale Begegnungsstätten und stehen Besuchern aus aller Welt offen. 

Die 69-jährige Genet kommt seit mehr als 30 Jahren aus einem mehr als 20 Kilometer entfernten Weiler zu jedem Osterfest hierher. »Früher verbrachte ich viele Tage fastend in oder vor der Kirche«, berichtet sie. »Nun sind meine Besuche etwas kürzer geworden. Aber so lange mich meine Beine tragen, werde ich weiter hierher kommen.« 

Betritt man die Räume der Marienkirche oder der Bet Medhane Alem (der größten Felsenkirche), so scheint sich seit Genets Jugend wenig verändert zu haben. Wie eh und je verneigen und bekreuzigen sich die Gläubigen zu den Gebetsgesängen der Priester und betrachten andächtig die Bildnisse aus der christlichen Geschichte. 

Läuft man durch die bis zu 13 Meter tief in den Fels geschlagenen, labyrinthförmigen Verbindungswege und Tunnel von Kirche zu Kirche, so fragt man sich, wie viele Baumeister, Steinmetze und Transportarbeiter einst diese architektonischen Wunderwerke geschaffen haben. Die Wissenschaft hält unterschiedliche Erklärungen für den Bau dieser Felsenkirchen bereit und lässt Raum für eigene Interpretationen. Zeitlich fällt die Bauperiode mit der Vertreibung der Kreuzritter aus Jerusalem durch Saladin im Jahr 1187 zusammen, so dass zumindest die Deutung, Lalibela wollte ein zweites, ein eigenes Jerusalem für sich und die vielen Pilger seines Reiches errichten, einleuchtend klingt. »Es gibt wohl kaum einen orthodoxen Christen in unserem Land, der nicht zumindest einmal in seinem Leben nach Lalibela gepilgert ist«, sagt auch Genet.

Zu den unzähligen faszinierten Besuchern gehört auch Susan Aitchison aus Schottland. Nach ihrem ersten Besuch beschloss sie gleich, ganz hier zu bleiben. Engagiert wirkte sie bei der Errichtung einer Schule im Ort mit, begleitete pädagogisch die Startphase, um sich anschließend einer neuen Herausforderung zu stellen. »Nach der Frühpensionierung in meiner Heimat fühlte ich mich noch zu jung, um den Rest meines Lebens vor dem Fernseher oder in einer Altenpension zu verbringen«, sagt die etwa 70-jährige mit einem Augenzwinkern. »Außerdem gibt es hier Berge wie in Schottland, die Amharen sind äußerst gastfreundlich, nur das Klima ist weitaus wärmer und angenehmer.« Vor fünfeinhalb Jahren baute sie mit einem äthiopischen Geschäftspartner das futuristisch anmutende Restaurant »Ben Abeba« in die noch nachholbedürftige touristische Infrastruktur Lalibelas. Heute ist ihr Gourmettempel Anlaufpunkt Nummer 1 für Touristen aus aller Welt, die hier auch das Nationalgericht Injera (Fladenbrot aus glutenfreiem Teff-Getreide) mit Biyeynot (vegetarische Saucen und Beilagen) probieren können. Und für die Jugend des Ortes entstanden 45 Ausbildungs- und Arbeitsplätze. 

Ruhe und Kraft tanken

Wenn sie die Sehnsucht nach der kühlen schottischen Berglandschaft packt, dann fährt Susan in den 500 Kilometer entfernten Sämen-Nationalpark, um in der bizarren Gebirgswelt der 3000er und 4000er Ruhe zu finden und Kraft zu tanken. Die wunderschöne Landschaft mit ihrer kargen Vegetation, ihren tiefen Schluchten und Tafelbergen muss sie sich dann lediglich mit einer Gruppe von Blutbrustpavianen teilen. 

Während sich Lalibela dank der UNESCO und auch Susan zu einem Touristen-Hotspot entwickelt, gelten die kleinen Klös-ter auf den Inseln und Halbinseln des Tanasees – des zehntgrößten Binnensees Afrikas – noch immer als Geheimtipp. Nur wenige ausländische Besucher trifft man an, fährt man mit einem der Boote von Dahir Bar zu der 45 Minuten entfernten Rundkirche Ura Kidane Mih-ret auf der Halbinsel Zeghie. Im Gegesatz zu den nur wenig verzierten Innenräumen der Kirchen von Lalibela überwältigt die kleine Klosterkirche ihre Besucher mit einer Fülle von Bildnissen aus der christlichen Geschichte. Es bedarf keiner Überredungskünste, um mit einem der 12 Mönche ins Gespräch zu kommen, der sich hier neun Jahre lang auf seine Mis-sion vorbereitete und nach einer Prüfung in der kleinen Mönchsgemeinde Aufnahme fand. »Ich habe mich mit 12 Jahren für den Glaubensweg entschieden«, sagt Aba Fresar. »Das wichtigste Rüstzeug eines Mönchs sind Glaube, Zielstrebigkeit und Geduld.« Diese Tugenden benötigen auch die anderen der etwa 400.000 Kirchendiener, die in den rund 800 Klöstern des Landes ihren Dienst tun.

Auch in Gondar, einst blühende Handelsstadt und Hauptstadt Äthiopiens von 1636 bis 1855, trifft man auf relativ wenige Touristen aus dem europäischen Ausland. Dabei ähnelt der 7000 Quadratmeter große Palastgarten im Inneren der Stadt schon fast europäischen Kaiserpfalzen.Von den Briten im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt, wurden und werden die beeindruckenden Paläste und Kirchen mit ihren prächtigen Deckenmalereien aufwendig restauriert. 

Bei einem Besuch wandelt man durch Sauna- und Wellnessbereiche der frühen Regenten, passiert Bibliotheken und eine Sängerhalle und fühlt sich so gar nicht in Afrika. Noch erstaunlicher ist das Bad des Königs Fasilides mit einem riesigen Swimming-Pool. Es gibt kaum einen ausländischen Touristen, der nicht von der Fülle und Schönheit der architektonischen Zeitzeugen aus der Geschichte Äthiopiens beeindruckt ist.