Bei der neurogenen Detrusorüberaktivität (Neurogenic Detrusor Overactivity, NDO) handelt es sich um eine Überaktivität des Harnblasen-Detrusors aufgrund einer neurologischen Grund-erkrankung.1 Die NDO kann zahlreiche Symptome haben, wie Pollakisurie, Nykturie, häufiges bis ständiges Harndranggefühl (Urgency) sowie Drang-inkontinenz.2
Nierenfunktion schützen
Oft hat eine neurogene Dysfunktion des unteren Harntrakts noch weitere Folgen. Dazu zählen unter anderem Harnwegsinfekte und Inkontinenz, aber auch Schädigungen des Nierenparenchyms und ein Verlust der Nierenfunktion. Einige der Komplikationen können für die Patien-ten sogar potenziell lebensbedrohlich sein.3,4
Die NDO-Behandlung sollte daher eine Reduzierung der Harnwegsinfekte, eine ausreichende Speicherfunktion, eine druckarme Entleerung der Harnblase und damit vor allem den Schutz des oberen Harntrakts mit Erhalt der Nierenfunktion erreichen.5 Dafür kommen unter anderem orale sowie intravesikale Anticholinergika und Botulinomtoxin A zur Injektion in den Detrusor infrage. Je nach Grunderkrankung, Applikationsform und möglichen Nebenwirkungen muss für jeden Patienten die optimale Behandlung gefunden werden.
Zu selten beachtet
Im Gegensatz zu Patienten mit Querschnittlähmung oder Spina bifida, bei denen zum Beispiel eine saubere intermittierende Selbstkatheterisierung (ISK) meist zum Alltag gehört, wissen viele Multiple Sklerose (MS)-Patienten nicht, dass auch Blasen-funktionsstörungen mit der MS zusammenhängen können.
Dabei haben bei der Erstdiagnose ca. 10% der Patienten Neurogenic Lower Urinary Tract Symptoms (NLUTS). Im Verlauf der MS-Erkrankung entwickeln sich Umfragen und urodynamischen Untersuchungen zufolge dann bei bis zu 90% der Betroffenen die entsprechenden Symptome.6,7 Mit mehr als 80% kommen NDO und Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD) bei MS-Patienten mit NLUTS am häufigsten vor.8,9
Die Beschwerden schränken die Betroffenen sozial extrem ein, können zu einer Verschlechterung der MS-Aktivität beitragen sowie Untersuchungen des Universitätsklinikums Bonn zufolge auch mit Depression und Fatigue zusammenhängen und damit letztendlich die Lebensqualität erheblich reduzieren.10,11
Dennoch werden die Blasenfunktionsstörungen viel zu selten beachtet: Mehr als die Hälfte der MS-Patienten erhält keine adäquate Behandlung der neurogenen Blasenfunktionsstörung.12
Interdisziplinäre Zusammenarbeit unerlässlich
Wichtig für die optimale Versorgung von neurologischen Patienten mit urologischen Problemen ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit beider Fachgruppen. Dazu sollte zum einen der Aufbau eines gemeinsamen Netzwerks gehören – optimalerweise hat jeder Neurologe generell einen Urologen zum engen Austausch in seinen Kontakten –, zum anderen können auch gemeinsame Fortbildungen dazu beitragen, die Herausforderungen des jeweils anderen Fach-bereichs zu verstehen.
Darüber hinaus sollten auch Neurologen Hilfsmittel zur Diagnoseverbesserung nutzen, die von urologischer Seite bereits verwendet werden, wie Fragebögen oder ein Miktionstagebuch (unter anderem erhältlich bei der Deutschen Kontinenz Gesellschaft).
Warnsignal Harnwegsinfekt
Und noch ein wichtiger Hinweis aus der urologischen Praxis: Auch wenn MS-Patienten subjektiv symptomlos sind, kann bereits ein durchgemachter Harnwegsinfekt bei MS ein Hinweis für eine Blasenfunktionsstörung sein. Daher sollten Neurologen spätestens im ersten Jahr nach der MS-Diagnose unbedingt mögliche Blasenprobleme ansprechen und die Zusammenarbeit mit einem Urologen in Betracht ziehen.
Anne Göttenauer
Quelle: 74. DGU-Kongress, 21.-24. September 2022 in Hamburg
Literatur: 1. Van Ophoven A. Diagnose und Therapie neurogener Blasenfunktionsstörungen. CME-Verlag 2019. 2. Haensch CA et al. S1-Leitlinie, AWMF-Reg.-Nr. 030-121. 3. Arbeitskreis Neuro-Urologie der DMGP, S2k-Leitlinie, AWMF-Reg.-Nr. 179-001. 4. Stein R et al. S2k-Leitlinie, AWMF-Reg.-Nr. 043-047. 5. Kurze I. ASBH Brief 2012; 04: 34-41. 6. Tornic J et al. Curr Neurol Neurosci Rep 2018; 18(8): 54. 7. De Sèze M et al. Mult Scler 2007; 13: 915-28. 8. Hemmer B et al. S2k-Leitlinie, AWMF-Reg.-Nr. 030-050. 9. Feneberg W et al. J Neurol 2000; 247(Suppl 3): III/171. 10. Khalaf KM et al. Neurourol Urodyn 2016; 35(1): 48-54. 11. Hemmett L et al. QJM 2004; 97(10): 671-6. 12. Flachenecker P et al. Fortschr Neurol Psychiatr 2020; 88: 436-50.