Epidemiologische Studien1 zeigen, dass Frauen wie Männer nahezu gleichermaßen von einer Internetsucht betroffen sein können. Bei Frauen handelt es sich häufig um eine Social-Media-Sucht. In der Realität sind mitunter Extremfälle zu beobachten: Frauen, die Facebook, WhatsApp, Dating-Portale oder Onlinesexangebote so exzessiv gebrauchen, dass sie sich und ihr Umfeld so sehr vernachlässigen, dass das Jugendamt ihre Kinder in Obhut nehmen muss. Oft gehen damit berufliche Perspektiv-losigkeit, Einsamkeit oder eine stark belas-tete Partnerschaft einher. Manche Betroffene konsumieren zusätzlich übermäßig Alkohol oder Cannabis, was den Betäubungseffekt der Mediennutzung noch verstärkt. Die eigene entgrenzte Onlinenutzung führt dabei nicht selten zu erneuten Betrugs- und Missbrauchserfahrungen durch Onlinekontakte. Eine weitere Gefahr: Pädophile Täter bauen mittels Online-dating Beziehungen mit Müttern auf, um somit Zugriff auf deren Kinder zu erhalten.
Maskierte Problematik
Das wären die Extreme. Auf der anderen Seite machen wir selbst die Erfahrung, wie schnell die gewohnheitsmäßige Social-Media-Nutzung ein unangenehmes Ausmaß annehmen kann – ohne dass es sich gleich um eine Sucht handelt. Eine Verhaltensveränderung ist noch möglich, die negativen Folgen halten sich in Grenzen. Was nicht heißt, dass letztere nicht auch schon bei „missbräuchlichem“ Nutzungsverhalten existieren: Viele Menschen ertappen sich zum Beispiel dabei, wie sie aufgrund des abendlichen Handysurfens zu spät ins Bett gehen. Die Folge: ein konstantes Schlafdefizit, damit einhergehende Konzentrationsschwierigkeiten und gedämpfte Stimmungs-lagen. Wer erst einmal anfängt, sich selbst zu beobachten, ist vielleicht unangenehm überrascht, wie automatisiert man bei jedem Nachrichtensignal zum Handy greift. Und wie viel Zeit beim Endlos-Scrollen auf Facebook unkontrolliert verloren geht.
Das ist die Schwierigkeit: Online sein ist mittlerweile so ein zentraler Bestandteil unseres privaten wie beruflichen Alltags geworden, dass die Schwelle zur Problematik zunächst kaum spürbar ist. So ist es nicht verwunderlich, dass sich eine Social-Media-Sucht lange maskiert, auch für die Betroffenen selbst. Klagt eine Patientin über Schlafstörungen, Stressgefühle im Alltag, Ängste oder Zwänge, kann es nicht schaden, nach ihren Internetnutzungsgewohnheiten zu fragen. „Was tun Sie, um mit ihrem Stress/Ihrer Schlafstörung/Ihrer schwierigen Lebens-situation umzugehen? Welche Rolle spielen dabei Medien?“
Suchtkriterien
Um eine erste Einschätzung des Schweregrads zu erhalten, hilft der standardisierte Fragebogen „Social Media Disorder Scale“ (SMDS), den Forscher der Utrecht University basierend auf den neun DSM-5-Kriterien einer „Internet Gaming Disorder“ entwickelten. Ein Suchtrisiko liege demnach vor, würde die Patientin fünf der neun Fragen mit Ja beantworten.
Es lohnt sich auch, über die Sozialen Netzwerke hinaus nachzufragen. Oft liegt eine Kombination aus mehreren problematisch genutzten Internetanwendungen vor. Wer bereits mit dem Handy chattet, nutzt es vielleicht auch für ein Handygame. Andere verlieren sich stundenlang in der Internetrecherche oder im Streamen von Serien.
Funktionen
Dass eine Frau ausgerechnet soziale Medien exzessiv nutzt und nicht eine ganz andere Art von Internetanwendung, kann Hinweis auf dahinterliegende Bedürfnisse geben und welche Funktion die Mediennutzung erfüllen soll. Hier ein paar Beispiele:
- Flucht aus überfordernden oder negativ empfundenen Situationen: Das schreiende Kind, die Beziehungskrise, die Einsamkeit, Ängste – die Welt der Sozialen Netzwerke schafft Distanz zur krisenhaften Situation. Hier ist „alles gut“. Zudem lenken die vielen Eindrücke wirksam ab.
- Beziehung: Über soziale Medien lässt sich in einem Kontext, der sich sicherer anfühlt als im Offline-Leben, Verbundenheit erleben. In der Online-Welt sind Kontakte gezielt selektierbar und können im Zweifel einfach weggeklickt werden. Menschen, die im Offline-Leben Probleme haben, Konflikte einzugehen und Grenzen zu setzen, fühlen sich womöglich online selbstbewusster und freier.
- Euphorische Erlebnisse: Soziale Netzwerke eignen sich dafür, intensive Gefühle und emotionale Auf und Abs auszuleben. Zum Beispiel durch aggressives Kommentieren von Facebook-Posts oder durch tagelange Streit-gespräche in der WhatsApp-Gruppe. Auch Verliebtheiten über Dating-Apps ermöglichen auf die Ferne Projektionen, die einer Realitätsüberprüfung nicht standhalten müssen. Zudem könnte online eine Nähe-Distanz-Regulation möglich sein, die der Person im Offline-Leben nicht gelingt.
- Die "Welt" entdecken: Auf Facebook und Instagram lassen sich Informationen im Endlosscrolling konsumieren. Es fühlt sich an, als sei man mit der ganzen Welt verbunden. In Wirklichkeit ist die dargestellte Wirklichkeit jedoch im hohen Maße selektiv. Die Auswahl der präsentierten Inhalte erfolgt durch den Algorithmus. Für die Nutzerin hat es den Vorteil, Wissensdurst stillen zu können, ohne Risiken wie zum Beispiel Misserfolgserlebnisse eingehen zu müssen.
Soziale Netzwerke können allerdings auch eine Ressource sein. Wirkt das Selbsthilfe-forum unterstützend bei der Bewältigung einer Krankheit? Soll mit dem Chatten der Kontakt zu bestehenden Offline-Freunden gehalten werden? Stellt das soziale Netzwerk ein kreatives Instrument dar, z. B. um auf ehrenamtliches Engagement aufmerksam zu machen? Auch hier ist es wichtig, genau hinzuschauen und nicht voreilig zu pathologisieren.
Behutsame Veränderungsbegleitung
Eine Social-Media-Sucht bei Frauen kann mit Komorbidität wie beispielsweise ADHS, einer Zwangserkrankung, Depressionen, Ess-störung oder Traumafolgestörungen einhergehen. Was zuerst da war, ist für viele Betroffene oft gar nicht mehr greifbar. Nicht selten wird die Mediennutzung aber eher als das Symp-tom empfunden, nicht als Kernproblematik. Dennoch ist es empfehlenswert, neben der Adressierung der ursächlichen Problematik parallel auch die süchtige Mediennutzung zu behandeln. Immerhin könnte diese als Bewältigungsversuch dienen, auch wenn sie womöglich die Kernproblematik chronifiziert bzw. verschlimmert. Auch eine schwere Lebenskrise oder Überforderungssituationen können hinter der exzessiven Mediennutzung stecken. Daher gilt es, die Bedeutung der Internetnutzung als vorüber-gehende „Krücke“ und (Lebens-)Bewältigungsstrategie nicht zu unterschätzen. Je nach Schweregrad sollte die Betroffene eine eigenständig durchgeführte Reduktion der problematischen Social-Media-Nutzung vermeiden und sich Unterstützung suchen. Es bestünde sonst die Gefahr, dass sich die Kernproblematik verschlimmert und eine Destabilisierung stattfindet. Auch hier ist also eine Differenzierung der genauen Zusammenhänge wichtig – am besten mit Hilfe von auf Internetsucht spezialisierten Beratern und Therapeuten.
Linny Geisler M.A., Dießen am Ammersee
Literatur:
1. Bischof, Gallus; Bischof, Anja; Meyer, Christian; John, Ulrich; Rumpf, Hans-Jürgen (2013): Prävalenz der Internet-abhängigkeit – Diagnostik und Risikoprofile (PINTA-DIARI). Kompaktbericht. Universität zu Lübeck, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Lübeck. 2. van den Eijnden, Regina J.J.M.; Lemmens, Jeroen S.; Valkenburg, Patti M. (2016): The Social Media Disorder Scale. In: Computers in Human Behavior 61, S. 478–487. Tabelle 3, (Übersetzung und Ergänzung durch die Autorin)