Alkohol kann Stress lösen und gleichzeitig wiederum als Stressor fungieren. Herr Professor Kiefer, wieso ist die Beziehung zwischen Alkoholkonsum und Stress derart komplex?
Kiefer: Zum einen wirkt Alkohol über seine beruhigende, dämpfende Eigenschaft akut stressreduzierend. Daher machen Menschen die Erfahrung, dass er ihnen subjektiv in dem Moment, wo sie unter Druck stehen oder körperlich angespannt sind und Stresssymptome zeigen, hilft. Daraus resultiert jedoch das Problem, dass zum einen Stress ein Warnsignal ist, was einen dazu bringen sollte, die Ursache aktiv zu lösen und zu bewältigen. Das heißt, man betäubt nicht nur die Symptome, sondern auch die Aktivitäten, die eigentlich wahrgenommen werden sollten und die der Stress als Warnsignal anzeigt. Man lernt daher nicht, mit bestimmten Umgebungsfaktoren, die Stress auslösen, umzugehen.
Zum anderen führt regelmäßiger Alkoholkonsum zu einer Anpassung von Hirn- und hormonellen Mechanismen, die wiederum eine Stressanfälligkeit provozieren.
Daraus ergibt sich ein Teufelskreis.
Genau. Zum einen wird man immer stressanfälliger, weil man die Stressbewältigung nicht gelernt hat. Zum anderen wird der Körper durch den Alkohol auch physiologisch immer stressanfälliger.
Inwieweit führt dauerhafter Alkoholkonsum zu neuroendokrinen Veränderungen und welche Folgen hat dies für die Betroffenen?
Alkohol wirkt über das GABAerge System dämpfend und beruhigend. In der Phase des Abklingens dieser Wirkung kann jedoch eine größere Unruhe entstehen, als vorher vorhanden war. Man sieht, dass Menschen, die sehr regelmäßig trinken, eher eine erhöhte Grundaktivität des Stresshormonsystems haben, der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Schon bevor eine Abhängigkeit besteht, können kleine Entzugsphasen auftreten. Dies macht sich häufig nachts bemerkbar, da die Betroffenen schlecht schlafen können und unruhig aufwachen. Es kommt also zu einer Störung der Schlafqualität. Das führt wiederum zu weiterer Unruhe, Stress und Belastung.
Wenn man sehr regelmäßig trinkt, dann sehen wir bei unseren Alkoholabhängigen zum einen eine erhöhte Grundaktivität des Stresshormonsystems, aber auch eine verringerte Stressreaktivität. Das neuroendokrine System hat eine hohe Grundaktivität, aber reagiert auf andere Stressoren nicht mehr so effektiv wie es das sonst tut.
Welche Rolle spielt das Suchtgedächtnis im Zusammenhang mit physiologischen Veränderungen?
Solche Veränderungen sind klinisch relevant, wenn man Suchtentwicklung und Veränderung auf Umwelteinflüsse wie Alkohol als langen Prozess begreift, der aber bereits mit dem ersten Schritt beginnt.
Rufen wir uns in Erinnerung: Sucht entsteht aus dem Konsum einer Abhängigkeit erzeugenden Substanz. Jede Konsumeinheit ist grundsätzlich relevant. Bei starken Suchtmitteln wie Kokain oder Amphetaminen reichen schon wenige Konsumeinheiten für eine Suchtentwicklung. Bei schwächeren Suchtmitteln, wie Alkohol und Cannabis, werden mehr Konsum-einheiten benötigt. Aber schon mit dem ersten Konsum beginnt eine Reise, die in einer Abhängigkeit enden kann.
Bietet diese Erkenntnis einen Ansatz für eine frühe Intervention?
Es wäre hilfreich, ein Werbeverbot zu etablieren, zum Beispiel Bierwerbung vor jedem Fußballspiel. Man muss sich bewusst machen, dass der reguläre, gewohnte Alkoholkonsum etwas anderes ist als die Abhängigkeit. Das ist etwas Dimensionales. Die Abhängigen rekrutieren sich aus denen, die zuvor gemäßigt und regulär getrunken haben. Und diese rekrutieren sich aus normalen, gesunden Menschen, die durch Werbung und Umgebung, Langeweile etc. zum Alkohol gekommen sind und nach und nach in eine Abhängigkeit gerutscht sind. Das ist aus meiner Sicht die wichtige Erkenntnis: Man kann nicht Alkohol bis zu einem gewissen Punkt fördern, und erst dann, wenn die Leute abhängig sind, sagen: Jetzt müssen wir etwas tun. Der gesamtgesellschaftliche Konsum von Alkohol erhöht die Zahl der Probleme und auch der Abhängigen.
In einem aktuell laufenden DFG-Projekt untersuchen Sie stressassoziierte Suchtdruck- und Rückfallprädiktoren bei Alkoholabhängigkeit. Was kann man da in Zukunft erwarten?
Unser Fokus liegt auf einer neuen Perspektive, um psychosozialen Stress rechtzeitig zu detektieren. Ziel ist, eine Prädiktion des Alkoholkonsums tätigen zu können. Stress führt nicht dazu, dass man sich bewusst sagt: ich möchte jetzt Alkohol trinken. Je häufiger man Alkohol konsumiert, umso automatisierter wird dieser Prozess. Das ist durchaus nachvollziehbar: Man gerät unter Druck und holt sich dann etwas zu trinken, um sich zu beruhigen. Das geht auch mit einer erhöhten Sensitivität für Alkoholreize einher. Es ist nicht so, dass der Stress im Gehirn den bewussten Wunsch erzeugt: ich möchte jetzt trinken. Sondern der Stress erzeugt eine erhöhte Sensibilität für alkoholassoziierte Reize.
Der Mensch hat eine selektive Aufmerksamkeit und wenn man Alkohol gewöhnt ist und unter Stress steht, dann schiebt sich die selektive Aufmerksamkeit in Richtung alkoholinduzierte Reize. Der erhöhte Stress wirkt auf die neuronale Verarbeitung von Alkoholreizen. Man erhöht die Reizreaktivität.
Es geht also darum, eine Risikosituation rechtzeitig zu erkennen...
... und dann dem Patienten rückzumelden: du bist gerade in einer physiologischen Stress-situation, die Wahrscheinlichkeit, dass du gleich anfängst zu trinken, ist groß. Das wäre ein sehr wirksamer Ansatz, um ihn aus diesem automatisierten Verhalten herauszuholen.
In unseren Studien erzeugen wir experimentell einen ausgeprägten psychosozialen Stress, und führen dann Experimente in einem Bar-Lab durch, in der sich die Leute mit Alkohol exponieren. Dabei werden zahlreiche physiologische Marker abgelesen, die man heute auch alle bereits mit Smartwatches messen kann. Das Ziel ist, den Patienten zu helfen, nicht in einen Rückfall hineinzustolpern, sondern über die Smartwatch eine Rückmeldung zu bekommen. Dann können die Patienten aktiv gegenarbeiten.
Heutzutage sind die dafür benötigten Endgeräte gar nicht mehr teuer. Wenn man bedenkt, was wir sonst in die Rückfallprävention investieren, dann kommt es da auf eine Smartwatch für 100 Euro auch nicht mehr an.
Wie ist der aktuelle Stand bei diesem Projekt?
Wir arbeiten derzeit daran, die physiologischen Marker zu differenzieren, die dann später in einer App zusammengeführt und analysiert werden. Es geht um eine komplexe Mustererkennung von physiologischen Markern – Muster, die gerade mit hohem Trinkdruck, mit einer hohen Reizreaktivität einhergehen. Das messen und analysieren wir, differenzieren es zum Beispiel zu sportlicher Aktivität, wo man auch eine erhöhte Herzrate und eine veränderte Herzratenvariabilität, eine erhöhte Hautleitfähigkeit, eine veränderte Atemfrequenz und so weiter aufweist. Körperliche Aktivität ist guter Stress, während psychosozialer Stress eher Disstress ist. Das muss man gut differenzieren und eine komplexe Mustererkennnung durchführen. Wenn das abgeschlossen ist, kann das recht unkompliziert in eine App überführt werden und zur Anwendung kommen.
Gibt es auf pharmakologischer Ebene Entwicklungen, die auf das Stresssystem zielen und rückfallprophylaktisch eingesetzt werden können?
Es wurden bereits Substanzen getestet, die jedoch noch nicht reif sind für die klinische Anwendung. Das sind CRH1-Antagonisten, die am Cortisol-Releasing-Hormon-Rezeptor im Gehirn wirken. Hier gibt es bereits eine gute Grundlage, dass diese Substanzen auch rückfallprophylaktisch und abstinenzverlängernd helfen können.
Bis diese verhaltenstherapeutischen bzw. pharmakologischen Ansätze für den klinischen Alltag verfügbar sind, was können die niedergelassenen Kollegen für Patienten mit Alkoholabhängigkeit beachten?
Was wir zum einen im Rahmen unserer Therapien anbieten, sind Entspannungsverfahren und achtsamkeitsbasierte Interventionen. Das ist im normalen, oft eng getakteten Praxis-alltag natürlich nicht immer leicht anzubieten. Wichtig ist es in jedem Fall, die Patienten zu einer Suchtberatungsstelle zu schicken, wo sie sich mit dem eigenen Krankheitsbild auseinandersetzen können.
Interview: Martha-Luise Storre