Newsletter

Medizin

Computertastatur
Cyberchondrie vereint Gesundheitsangst und zwanghaften Internetgebrauch.
© iStock/anyaberkut

Wenn die Angst vor der Krankheit krank macht

Wenn ein Patient hinter banalen Symptomen eine lebensbedrohliche Krankheit vermutet und sich nicht beruhigen lässt, leidet er unter Gesundheitsangst. Sucht er im Internet nach immer mehr Informationen, die ihn noch weiter verunsichern, spricht man von Cyberchondrie. Im schlimmsten Fall führt das dazu, dass der Patient die beschriebenen Effekte tatsächlich erlebt.

„Hypochondrie ist eine ernsthafte Erkrankung“, so Prof. Peter Henningsen von der TU München. Der moderne Begriff lautet Gesundheitsangst. Betroffene sind stark davon überzeugt, dass sie an einer bedrohlichen Krankheit leiden und sie lassen sich auch durch gegenteilige Versicherungen nicht beruhigen. Sie suchen wegen der vermuteten körperlichen Erkrankung immer wieder den Arzt /die Ärztin auf und sind anschließend kurzfristig, aber eben nur kurzfristig, beruhigt. „Und dann schleicht sich die Angst wieder ein“, sagt Henningsen. „Der Leidensdruck wird bei diesen Patienten nicht von körperlichen Beschwerden erzeugt, sondern von der ängstlichen Überzeugung.“ Von Progredienzangst spricht man, wenn sich die Sorgen auf die Frage richten, wie sich die Erkrankung weiter entwickelt.

Wann die Angst zur Störung wird, ist nicht eindeutig definiert, das sei laut Henningsen auch immer ein Stück Konvention. Lässt sich der Patient auch kurzfristig nicht mehr beruhigen, spricht man von hypochondrischem Wahn: „Eine feste, auch nicht kurzfristig beruhigbare Überzeugung: Ich habe die subjektive Gewissheit, dass ich jetzt erkranken werde.“

Cyberchondrie: misslingendes Sicherheitsverhalten

Gesundheitsinformationen im Internet und in den sozialen Medien haben in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Doch gibt es ein riesiges Qualitätsspektrum: Auf der einen Seite geprüfte Qualität, auf der anderen Seite schlicht falsche und von Interessen geleitete Fehlinformationen.

2020 nutzten laut einer Studie über die Hälfte aller Patienten Google, um sich über Beschwerden zu informieren. Das sei nicht grundsätzlich schlecht, urteilt  Henningsen, da die e-Helth-Literacy, die Kompetenz diese Informationen sinnvoll zu nutzen, steige. In einer Studie nahm beispielsweise die Diagnose-sicherheit der Probanden durch eine Internetsuche signifikant zu, die damit einhergehenden Ängste blieben unverändert.

Dennoch gibt es das Krankheitsbild der Cyberchondrie, das Gesundheitsangst und zwanghaften Internetgebrauch vereint. Wie stark die Krankheit ausgeprägt ist, hängt davon ab, wie zwanghaft der Patient das Internet nutzt, wie sehr er leidet, wie viel Zeit er für seine Internet-Recherche investiert, wie sehr er sich rückversichern muss und wie misstrauisch er Informationen gegenüber ist.

Cyberchondrie kann man als misslingendes Sicherheitsverhalten verstehen, „das heißt, jemand möchte durch die Suche im Internet vermehrt Sicherheit erhalten. Aber es passiert genau das Gegenteil, er wird zunehmend verunsichert.“ Wer Unsicherheit nur schlecht toleriert, entwickelt leichter Ängste, die zu einer sogenannten Such-Eskalation führen können. Diese Patienten gelangen bei der Suche nach einem harmlosen Symptom wie Kopfschmerzen zu der Überzeugung, dass sie einen Hirn-tumor haben und beginnen nun nach allen Informationen darüber zu suchen.

Informationsflut verstärkt Cyberchondrie und Impfskepsis

Insgesamt hat der Internetgebrauch in der Pandemie enorm zugenommen. Ungefähr zwei Drittel aller Menschen sagen, dass sie das Internet während der Pandemie eindeutig häufiger gebraucht haben. Studien zeigen, dass dadurch das Risiko für Cyberchondrie steigt. Die Cyberchondrie ihrerseits verstärkt die erlebte Belastung durch die Pandemie.

„Aber nicht nur das Belastungserleben, sondern auch die Impfskepsis wird beeinflusst durch die Cyberchondrie“, führt Henningsen als Beispiel an. Natürlich verstärkt der Informationsüberfluss etwa über Nebenwirkungen das wahrgenommene Risiko direkt, stärker aber beeinflusst der indirekte Effekt der Cyberchondrie die Impfskepsis.  So klagten in einer aktuellen Studie 30% der Patienten über Impfnebenwirkungen, obwohl sie ein Placebo erhalten haben. Natürlich erwarten Menschen, die durch die Medien aufmerksam gemacht wurden, bestimmte Nebenwirkungen, und nehmen diese auch vermehrt wahr. Es kommt bei körperlichen Beschwerden nach einem aktuellen Modell nicht nur darauf an, was die Sinnesorgane wahrnehmen, sondern auch auf die Erwartungen und inwieweit die Erwartungen mit dem sensorischen Input übereinstimmen.

Die Erwartungen sind geprägt von früheren Krankheitserfahrungen, kulturellen Überzeugungen und sozialen Medien: „Wenn ich die feste Erwartung habe, ich werde jetzt bei irgendeiner Bewegung Schmerz erleben, dann wird auch die kleinste Stimulation mit einer subjektiv aufrichtigen Schmerzwahrnehmung einhergehen“, sagt Henningsen.

„Natürlich gibt es auch seriöse Informationen im Netz“, stellt der Psychiater klar. Diese könne man dem Patienten empfehlen und ihn aber zugleich über den Nocebo-Effekt aufklären.

Wie Youtube die Tourette-Sprechstunden füllt

Medien können angstgetönte Krankheitserwartungen induzieren. So gibt es einen jungen Mann mit einem vermutlich leichten Tourette-Syndrom, der in seinem Youtube-Kanal „Gewitter im Kopf“ sehr vielen Followern sein Leben schildert und zeigt, wie er mit seiner Krankheit umgeht. „Die Folge ist, dass jetzt relativ viele junge Leute die relativ wenigen Spezialsprechstunden für solche komplexen Ticstörungen überlaufen, mit der subjektiven Überzeugung, an diesem Syndrom zu leiden. In einer Studie bezeichnen die Autoren das als eine moderne Form der kulturgebundenen Stressreak-tion: Menschen, die in diesem Fall durch die Pandemie gestresst sind, finden in den sozialen Medien ein Erklärungsmodell und kanalisieren ihr Stresserleben in die Vorstellung, auch am Tourette-Syndrom zu leiden.

Die Krankheitsüberzeugung erfragen

Es lohnt sich immer, den Patienten nicht nur nach seinen Beschwerden zu fragen, sondern auch danach, was er über deren Ursachen denkt: „Das aktiv zu erfragen, öffnet plötzlich die Tür. Denn der Patient kommt nicht zu Ihnen und sagt, ich bin hypochondrisch“, sondern dass er beispielsweise von der Angst geplagt wird, einen Herzinfarkt zu erleiden.

Eine etablierte Therapieform bei einer Krankheits-Angststörung ist die Expositions-Therapie. Dafür muss man mit dem Patienten und auch seiner Familie verabreden, dass er sich über eine gewisse Zeit nicht bei seiner Familie oder im Internet versichert, keine schwere Krankheit zu haben. Dann kann der Patient die Erfahrung machen, dass seine Angst wieder nachlässt. Bei suchtartigem Internetgebrauch ist aber tatsächlich eine Entzugstherapie angebracht.

Roland Müller-Waldeck

Quelle: Sitzung im Rahmen  der Jahrestagung der DGIM  „Angst an der Grenze zwischen Normalität und Pathologie“ am 30. April 2022