Die LMU München bietet eine Ambulanz speziell für Migrant:innen an. Was versprechen Sie sich davon?
Mokhtari-Nejad: Wir haben einen steigenden Anteil an Menschen mit Migrationsgeschichte. Entsprechend hoch ist der Bedarf. Wir sehen, dass diese Menschen – das zeigt auch die Literatur – ein höheres Risiko für psychiatrische Erkrankungen haben. Wir sehen aber auch, dass es für Menschen mit Migrationshintergrund höhere Hürden gibt, zum Beispiel die Sprachbarriere. Mit kulturspezifischen Angeboten können wir diese Hürden deutlich senken. Es sind aktive Anlaufstellen und Kontaktadressen für Kolleg:innen nötig, für die die Behandlung dieser Patient:innen-Gruppe nicht in den Praxis-Alltag integrierbar ist. Daraus ist die Idee entstanden, ein niedrigschwelliges Angebot zu etablieren.
Pogarell: Wir bemühen uns natürlich, mit den Betroffenen kultursensibel umzugehen. Wir haben ein Netzwerk aufgebaut, wir stehen im Austausch mit den Behörden, mit anderen Ambulanzen und Einrichtungen. Wir sind in der Lage, die Betreuung Sektor-übergreifend ambulant, teilstationär und stationär zu organisieren. Das mag ein Vorteil sein im Vergleich zu einer einzelnen Praxis. Aber ohne die Kompetenz der Niedergelassenen geht es natürlich auch nicht.
Welche Ziele verfolgen Sie?
Pogarell: Wir haben Empowermentprogramme und Gruppentherapien in der ersten Flüchtlingskrise 2015/216 speziell für Menschen aus dem arabischen Raum entwickelt. Dies konnten wir jetzt auf Menschen aus der Ukraine übertragen. Ziel ist es, die Personen zu befähigen, ihr Leben wieder selbst zu gestalten, Ängste zu reduzieren und Stressoren zu erkennen und damit umzugehen. Dazu können wie alle Arten von psychiatrischem Support anbieten – von der ambulanten bis zur stationären Betreuung.
Wie wirkt sich das aktuelle Kriegsgeschehen in der Ukraine in Ihrer Migrationsambulanz aus? Welche psychiatrischen Erkrankungen stehen bei diesen Patient:innen im Vordergrund?
Mokhtari-Nejad: Das sind zum einen ganz klar posttraumatische Belastungsstörungen bei Menschen, die akut im Kriegsgeschehen involviert waren. Dazu kommt, dass ein Teil der Familie ja immer noch vor Ort ist und dass die Männer und Söhne an der Front kämpfen. Da kann in jeder Minute die traumatische Nachricht kommen, dass jemand getötet worden ist. Das führt ebenfalls zu akuten Belastungsreaktionen.
Pogarell: Die jetzige Fluchtkonstellation ist nicht vergleichbar mit der Situation 2015/2016. Damals haben sich viele zu Fuß auf den langen Weg gemacht – die Flucht selbst stellte damit schon ein traumatisierendes Erlebnis dar.
Mokhtari-Nejad: Wir hatten damals viele Eltern, die auf der Flucht im Mittelmeer ihre Kinder verloren haben – Säuglinge, Kleinkinder, Jugendliche – oder es kam zu schweren Vorfällen gerade für Frauen und Mädchen.
Pogarell: Zumindest zu Beginn des Ukraine-Kriegs sind die meisten dagegen mehr oder weniger ge-plant geflüchtet. Bis sich dann eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, vergeht Zeit. In der Literatur ist eine Latenz von Wochen bis Monaten angegeben. Und in dieser Phase befinden wir uns jetzt. Wir sehen jetzt zum einen die Entwurzelung und die großen Sorgen um die Heimat, um die Zukunft. Wir sehen aber auch Menschen, die ihre Erkrankung mitbringen und eine Weiterbehandlung benötigen – zum Beispiel Menschen, die an einer Psychose oder Depression erkrankt sind oder eine Abhängigkeits-erkrankung haben, und die hier ein Folgerezept oder Unterstützung brauchen. Dazu kommen diejenigen, die in den Einrichtungen nicht gut zurechtkommen, Stress erleben und dadurch Anpassungsstörungen entwickeln. Wie es wirklich mit Trauma-Folge-störungen aussieht, wird sich im Weiteren erst zeigen.
Wie gehen die Betroffenen mit ihrer Problematik um?
Mokhtari-Nejad: Typisch ist, dass Belastungen von den Menschen erstmal selbst getragen werden. In der Regel findet zunächst eine gute Phase statt, wenn man angekommen und entlastet ist, weil man es geschafft hat und sich in Sicherheit befindet – die sogenannte Honeymoon-Phase der Migration. Dabei helfen protektive Faktoren wie familiäre Strukturen, Arbeit, Kontakt zur Heimat, Sprachkenntnisse. Dies kann dazu führen, dass man tatsächlich ankommt und sich stabil und psychisch gesund verwurzeln kann, eine neue Heimat gewinnt. Es kann aber auch sein, dass man nicht gut unterkommt, auf dem Arbeitsmarkt scheitert oder viele Begrenzungen hat, was sich unter Umständen psychiatrisch manifestieren kann. Es gibt viele, die Behandlungsbedarf haben, die wir aber nicht sehen, weil sie mit den Alltagsbeschäftigungen ausgelastet sind. Damit steigt die Gefahr der Chronifizierung mit Auswirkungen auf die Kinder, die Beziehung, das eigene Leben. Die Frage ist: Finden diese Menschen im Verlauf den Weg zu einer fachspezifischen psychiatrischen Behandlung? Wir sehen eher die Spitze des Eisbergs, die sehr akuten Fälle.
Sie unterscheiden zwischen psychiatrischen Erkrankungen, die bereits vorhanden waren, und Erkrankungen, die durch die Traumatisierung erworben sind und sich dann bemerkbar machen können.
Pogarell: Wir haben beispielsweise Menschen, die in der Ukraine mit Opioiden behandelt wurden. In der Ukraine gibt es die Substitutionsbehandlung im Gegensatz zu Russland, wo sie verboten ist. Das war auf der Krim ein großes Problem, weil nach der Annexion durch Russland die Substitutionsprogramme auf einen Schlag beendet wurden, was viele Opioid-abhängige Menschen wieder in die Illegalität getrieben hat. Diese Personen können wir nach Rücksprache mit den städtischen und kommunalen Stellen betreuen. Dazu kommen Personen mit somatischen Komorbiditäten wie schwere, unbehandelte internistische Erkrankungen, entgleiste Stoffwechselerkrankungen oder Krebs, die stationär aufgenommen werden und aufgrund ihrer Isolierung psychosoziale Unterstützung brauchen.
Die Situation der syrischen Flüchtlinge damals und der Menschen aus der Ukraine ist sicher nicht vergleichbar. Viele Privatpersonen sind jetzt bereit, Flüchtlinge aufzunehmen.
Pogarell: In den Medien wird vielfach darüber berichtet, wie „einfach“ es die jetzt Geflüchteten haben im Vergleich zu den syrischen oder afghanischen Geflüchteten. Da wird unterschieden zwischen Flüchtlingen erster und zweiter Klasse. Aber so einfach ist es nicht. Alle Menschen mit Flucht-erfahrung sind teils extremen Belastungen ausgesetzt.
Mokhtari-Nejad: Wir haben aus der Flüchtlingskrise 2015/16 gelernt: Für die ukrainischen Geflüchteten sind die Ausgangssituationen jetzt besser. Das kann vielleicht dazu führen, dass bestimmte Entwicklungen abgefedert oder gemildert werden und gar nicht im Vollbild enden. Aus psychiatrischer Sicht ist die private Hilfe natürlich erst mal gut für die Menschen, die aus der Ukraine kommen. Aber es gibt Vor- und Nachteile. In den Erstaufnahmeeinrichtungen findet die Asylberatung mit unterschiedlichen Trägern vor Ort statt, die langjährige Erfahrung haben. Hier besteht eine enge Vernetzung mit den zuständigen Ämtern. Es kann sehr schnell reagiert werden, wenn es zu Problemen oder psychischen Ausnahmezuständen kommt. Und die Menschen sind offiziell registriert. Das bietet einen gewissen Schutz. Private Unterkünfte erscheinen auf den ersten Blick erst mal besser – schönere Wohnverhältnisse, persönliche Unterstützung. Aber man darf auch nicht vergessen, dass diese Menschen in erster Linie helfen wollen, aber keine ausgebildeten Sozialarbeiter:innen oder Sozialpädagog:innen sind, die wissen, wo sie sich Hilfe holen können. Das sehe ich ein bisschen ambivalent.
Spiegelt sich die positive Einstellung auch in einem Umdenken der Politik wider?
Pogarell: Die Politik reagiert jetzt ganz anders als damals und eher präventiv, indem sie den Menschen eine gewisse Freizügigkeit ermöglicht und zum Beispiel erlaubt zu arbeiten. Diese Möglichkeiten hatten die Menschen aus Syrien damals nicht. Das heißt, es fiel viel weg, was Alltagsgestaltung, Strukturierung und ein sinnvolles Dasein betrifft – Faktoren, die psychische Störungen reduzieren helfen oder gar nicht erst zum Ausbruch kommen lassen. Ganz wichtig ist: Die Betroffenen sind entwurzelt, aber sie sind ansonsten vollkommen lebensfähig und möchten natürlich ihre Autonomie bewahren.
Mokhtari-Nejad: Durch die Erfahrung aus der Flüchtlingswelle 2015/16 haben sich Strukturen und Wege etabliert, auf die man jetzt zurückgreifen kann. Sicher mit anderen Schwerpunkten, aber die Zusammenarbeit ist dadurch deutlich besser und einfacher geworden.
Pogarell: Wichtig ist in erster Linie, dass die Ursache des Konfliktes gelöst wird und möglichst viele Geflüchtete wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Das wird dann möglicherweise zu einer zweiten Welle der Traumatisierung führen – wenn man zurückkehrt und seine Heimat in Trümmern vorfindet.
Interview: Cornelia Weber

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Migrations-Ambulanz: „Wir haben aus der Flüchtlingskrise 2015/2016 gelernt“
Mit welchen psychiatrischen Problemen Migrant:innen zu kämpfen haben, welche Rolle aktuell der Ukraine-Krieg spielt, was eine spezielle Ambulanz leisten kann und was wir aus der Flüchtlingswelle 2015/2016 gelernt haben – Interview mit Dr. med. Rabee Mokhtari-Nejad und Prof. Dr. med. Oliver Pogarell von der LMU München