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Medizin

Prof. Dr. Christine Falter-Wagner
Univ.-Prof. Dr. Christine Falter-Wagner
Heisenbergprofessur für Klinische Entwicklungs­psychologie mit Schwerpunkt Autismus-Spektrum-Störung
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
LMU Klinikum
München
© Falter-Wagner

Autismus-Spektrum-Störung: „Eine Therapie ist nicht automatisch indiziert“

Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist durch qualitative Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion und Kommunikation, sowie ein Repertoire eingeschränkter und sich wiederholender Verhaltensweisen gekennzeichnet. In den vergangenen Jahren hat sich das Verständnis der ASS verändert. Über mögliche Auslöser sowie geschlechts- und altersspezifische Besonderheiten spricht Professorin Christine Falter-Wagner aus München im Interview.

Interview: Martha-Luise Storre

Bei einer Autismus-Spektrum-Störung handelt es sich um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Frau Professorin Falter-Wagner, wodurch ist diese gekennzeichnet bzw. wie äußerst sie sich?

Falter-Wagner: Bei dieser neuronalen Entwicklungsstörung liegen tiefgreifende Symptome ab früher Kindheit und in zwei Teilbereichen gleichzeitig vor, nämlich im Bereich des stereo-typen, eingeschränkten und repetitiven Verhaltens sowie im Bereich der sozialen Kommunikation und Interaktion. Das kann sich etwa darin äußern, dass man sich sehr intensiv nur mit einem sehr spezifischen Teilbereich eines Interessensgebietes beschäftigt – beispielsweise mit der detaillierten Aufzeichnung von Ticketverkäufen im Rahmen der Fussballweltmeisterschaft, ohne aber die Spiele zu verfolgen. Solche Interessen werden in der Regel verfolgt ohne andere daran teilhaben zu lassen oder sich mit anderen auszutauschen. Die repetitiven Verhaltensweisen gehen weit über allgemeine Routinen, wie beispielsweise immer um die gleiche Zeit das gleiche Frühstück zu essen, hinaus. Dazu kommen die mangelnde Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen – genannt Mentalisierung – und zahlreiche Auffälligkeiten in der verbalen und nonverbalen Kommunikation, die einen gegenseitigen Austausch erschweren.

Was ist über die Ursache bzw. mögliche Auslöser von ASS bekannt?

Man weiß mittlerweile, dass die ASS eine neurobiologische Ursache hat und nicht, wie ursprünglich fälschlicherweise vermutet, auf Erziehungsfehler zurückzuführen ist. Es gibt starke genetische Komponenten, welche wahrscheinlich in Interaktion mit verschiedenen Umweltrisiken zum Vollbild einer ASS führen. Ein bekannter Risikofaktor ist beispielsweise das fortgeschrittene Alter beider Eltern bei Geburt des Kindes.

In der Spezialambulanz für Autismus-Spektrum-Störung sehen Sie Erwachsene mit begründetem Verdacht auf Vorliegen einer ASS. Wo liegt hier der Fokus?

Wir bieten in der Spezialambulanz eine multidisziplinäre Konsensdiagnostik gemäß S3-Leitlinie an. Niedergelassene Kolleg*innen können bei begründetem Verdacht eine spezifische Abklärung einer neuronalen Entwicklungsstörung, wie zum Beispiel ASS oder ADHS, anmelden und erhalten dann im Befundbericht entweder eine begründete Bestätigung einer neuronalen Entwicklungsstörung oder den begründeten Ausschluss einer Diagnose in diesem Bereich zusammen mit Vorschlägen zu möglichen weiteren Diagnostik- bzw. Behandlungsschritten.

Welche Kriterien werden für eine Diagnose zugrunde gelegt?

Die Kriterien für die Diagnose einer ASS sind tiefgreifende und qualitative Abweichungen im Verhalten, welche sich auf stereotype und eingeschränkte Interessen und Aktivitäten beziehen und die reziproke Kommunikation und Interaktion beeinträchtigen. Diese Einschränkungen liegen sowohl situationsübergreifend als auch lebensspannenübergreifend ab der frühen Kindheit vor. Die wichtigste Änderung in der ICD-11 ist die Aufhebung der Subtypen und damit die Aufgabe der Diagnosekategorie “Asperger-Syndrom”, da sich die Annahme eines eigenständigen Störungsbildes nicht bestätigt hat. Eine für die Behandlungsplanung ebenfalls wichtige Neuerung ist, dass nun ADHS komorbid zu ASS diagnostiziert werden darf und keine Ausschlussdiagnose mehr darstellt.

Und welche Differenzialdiagnosen gilt es in Erwägung zu ziehen?

In den Spezialambulanzen für das Erwachsenenalter liegt, im Gegensatz zu Ambulanzen für das Kindesalter, häufig keine tiefgreifende Entwicklungsstörung bei den zur Abklärung zugewiesenen Personen vor. Es gilt die seltenen Fälle einer in der Kindheit unerkannt gebliebenen neuronalen Entwicklungsstörung von den wesentlich häufigeren anderen sozialen Interaktionsstörungen abzugrenzen. Sehr viele Diagnosen gehen mit teilweise erheblichen Schwierigkeiten in der Lebensführung und der sozialen Interaktion einher, bspw. die chronische Depression, die ängstlich-vermeidende oder die Borderline Persönlichkeitsstörung.

In einem Artikel der Süddeutsche Zeitung stand Ende 2022, dass „Hunderttausend Frauen in Deutschland mit einer Autismus-Spektrum-Störung“ leben, diese aber oft erst spät erkannt wird. Woran liegt das? Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede bei ASS?

Die Geschlechtsverteilung bei den ASS liegt aktuell bei zwei bis drei Männern gegenüber einer Frau. Mögliche Voreingenommenheiten in der Diagnostik zu Geschlecht, aber beispielsweise auch Herkunft, werden aktuell zu Recht diskutiert und sollten immer im Blick behalten werden. Die Forschung zeigt allerdings bisher keine haltbare Grundlage für die Annahme einer typisch weiblichen oder typisch männlichen ASS. Unsere eigenen Studien zeigen tatsächlich, dass in der Gesamtbevölkerung beobachtbare, vermutlich sozialisierte, kognitive Geschlechtsunterschiede eher weniger ausgeprägt sind zwischen Männern und Frauen mit ASS. Zudem fühlen sich nicht alle Personen mit ASS einem binären Geschlecht zugehörig. Insofern ist es zielführender, jede Person individuell zu betrachten und auf mögliche Voreingenommenheiten zu achten, anstatt neue Schubladen für vermeintlich typisch männliches oder vermeintlich typisch weibliches autistisches Verhalten zu kreieren, welche der individuellen Heterogenität nicht gerecht werden.

Inwiefern gibt es Unterschiede hinsichtlich ASS im Kindes- und Jugendalter bzw. bei Erwachsenen?

Die Kernsymptomatik ist die gleiche über die Lebensspanne hinweg. Der Unterstützungsbedarf variiert über die Lebenspanne allerdings erheblich mit den jeweiligen Anforderungen. So ist ein Hauptproblem unserer erwachsenen Patient*innen die hohe Erwerbslosigkeit. Wir haben errechnet, dass diese im Vergleich zur deutschen Gesamtbevölkerung um das fünffache erhöht ist. Wir beschäftigen uns klinisch und in der Forschung auch speziell mit der sehr sensiblen Phase der Transition von Kindes- und Jugendalter in das Erwachsenenalter. Leider fallen in dieser Phase, trotz erhöhtem Unterstützungsbedarf, viele Hilfsstrukturen weg, was sicherlich zu den erheblichen psychischen Komorbiditätsraten beiträgt.

Wenn die Diagnose ASS gestellt ist, welche therapeutischen Möglichkeiten bzw. Ansätze stehen zur Verfügung?

Eine Therapie ist bei ASS nicht automatisch indiziert. Zunächst muss mit der Person gemeinsam geklärt werden, ob und welcher Therapiebedarf aktuell vorliegt. Im Kindes- und Jugendalter gibt es gute Angebote, zum Beispiel das Frankfurter Autismus-Elterntraining. Für das Erwachsenenalter gibt es gute Gruppentherapieangebote wie das GATE – Gruppentraining für Autismus im Erwachsenenalter – oder FASTER – Freiburger Autismus-Spezifische Therapie bei Erwachsenen. Für weitere Informationen wurde eine S3-Leitlinie zu Therapie von ASS entwickelt. Eine häufige Frage bezieht sich auf die Herangehensweise in der Behandlung von Komorbiditäten, welche ein häufiger Grund für Therapiebedarf darstellen. Hier ist die Empfehlung, die komorbiden Diagnosen gemäß jeweiliger Leitlinie zu behandeln.

Nicht bei allen Patient:innen, die zu Ihnen in die Spezialambulanz kommen, bestätigt sich der Verdacht auf ASS. Birgt dies eventuell auch ein Konfliktpotenzial?

Durch die leider häufig einseitige oder falsche Darstellung der ASS in den Medien kommt es teilweise zu einer ausgeprägten Identifikation mit dem Störungsbild ASS, wo dieses allerdings nicht vorliegt, sondern die Symptomatik durch eine der Differenzialdiagnosen verursacht wird. Die richtige Diagnoseeinordnung ist sehr wichtig für weitere Behandlungsentscheidungen. 

 

Literatur: 1. AWMF S3-Leitlinie Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, Teil 1: Diagnostik; 2016