Ein Spaziergänger trifft in einem Wald auf einen Holzfäller, der mühsam versucht, mit seiner stumpfen Säge einen Baum zu fällen. Er tritt an ihn heran und fragt: „Aber guter Mann, Ihre Säge ist ja ganz stumpf. Warum schärfen Sie sie denn nicht?” Darauf antwortet der Arbeiter: „Dafür habe ich keine Zeit, ich muss doch sägen…!”
In dieser Anekdote finden sich viele ärztliche Kolleg:innen wieder, wenn es um Fragen der eigenen Gesundheitsfürsorge geht. Dem entgegen steht die Neufassung des Genfer Gelöbnisses aus dem Jahr 2017, in welchem es heißt: „Als Mitglied der ärztlichen Profession gelobe ich feierlich, (…) ich werde auf meine eigene Gesundheit, mein Wohlergehen und meine Fähigkeiten achten, um eine Behandlung auf höchstem Niveau leisten zu können.“1 Zugleich weisen verschiedene Studien darauf hin, dass die eigene Gesundheit und die Zufriedenheit im Arbeitskontext einen bedeutenden Einfluss auf die Qualität der Patientenversorgung zu haben scheinen.2,3 Auch wird eine enge Korrelation zwischen verschiedenen Dimensionen von Burnout und medizinischen Fehlern vermutet.4
Hintergründe
Vor diesem Hintergrund erscheint es umso brisanter, dass bereits Medizinstudenten eine höhere Prävalenz für psychische Störungen wie Burnout, Depressionen und Suizidalität aufzuweisen scheinen als die Allgemeinbevölkerung.5 International findet sich eine Vielzahl von Studien, die auf ein erhöhtes Risiko für Burnout, Depressionen und Substanzkonsum bei Ärzt:innen hinweisen. In Deutschland ist die Punktprävalenz für eine klinisch relevante depressive Störung mit 6–13% und die Lebenszeitprävalenz mit 41–45%6,7 bei Ärzt:innen deutlich erhöht im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, in welcher die 12-Monats-Prävalenz bei 4,5–8,5% und die Lebenszeitprävalenz bei 9,9–14,5% liegt.8 Angsterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, ADHS und/oder Substanzmissbrauch treten zudem häufig komorbid auf. Besonders betroffen sind die Fachrichtungen: Notfallmedizin, Innere- und Allgemeinmedizin, Neurologie und Psychiaterie/Psychotherapie.9,10 Ärztinnen scheinen zumindest im Hinblick auf eine depressive Symptomatik deutlich häufiger zu erkranken.9
Interventionsmöglichkeiten
Institutionelle Interventionen können durch eine Verminderung der Aufgabendichte, Arbeitszeiten mit weniger Unterbrechungen, Dienstplanänderungen sowie Veränderungen der gesamten Organisation erfolgen.11
Individuelle Interventionen wie Super-vision, Balint- oder Ifa-Gruppenarbeit, Ressourcenorientierung, Coaching und Problemlösetrainings können ebenfalls zu einer deutlichen Reduktion einer Burn-out-Symptomatik führen und somit einer tatsächlichen Manifestation psychischer Erkrankungen vorbeugen.12
Leider sind beide Interventionsmöglichkeiten deutschlandweit nicht Standard. Zudem werden individuelle Interventionen freiwillig zu selten in Anspruch genommen.
Die (stationäre) Behandlung psychisch erkrankter Ärzt:innen
Unserer Erfahrung nach begeben sich die Betroffenen oftmals viel zu spät in Behandlung. Häufig erfolgen im Vorfeld informelle Konsultationen und Selbstdiagnostik/-therapie. Ganz allgemein besteht bei Mediziner:innen eine Tendenz zur Verharmlosung eigener Beschwerden bei gleichzeitig sehr hohen Ansprüchen an sich selbst. Sich selbst (psychisch) erkrankt und bedürftig zu zeigen, ist für viele Kolleg:innen ungewohnt und oft Scham behaftet. Der Rollenwechsel ist für Betroffene wie Behandler:innen herausfordernd und schwierig. Von Seiten der Behandelnden werden die „Helfer“-Patient:innen unter Umständen „bedrohlich“ erlebt: zeigt die Erkrankung des/der Kolleg:in auch, dass sie selbst nicht unverwundbar sind. Zudem können zusätzlich Verunsicherungen im Hinblick auf die eigene Kompetenz entstehen. Möglicherweise kommen diese Patient:innen den Behandelnden emotional sehr nahe. Dabei ist es wichtig, professionell zu bleiben und eigene Verbrüderungs- oder Dissimulations-tendenzen zu erkennen, Supervision in Anspruch zu nehmen und die Kolleg:innen in der Patient:innen-Rolle ernst zu nehmen und zu begleiten.
Überdies gerät das co-therapeutische Team oftmals in eine freundlich-submissive bis distanziert-submissive Position, in der beispielsweise Übervorsichtigkeit und Verunsicherung wenig Behandlungsspielraum lassen.
In Deutschland gibt es nur wenige Kliniken, die auf die Behandlung von Ärzt:innen spezialisiert sind bzw. ein spezifisches Angebot an diese Berufsgruppe machen. Ärzt:innen benötigen jedoch eine Behandlung, in der sie sich in die Patient:innenrolle begeben und das eigene Rollenverständnis als „Helfer:in“ hinterfragen können. Dies auch vor dem Hintergrund typischer Ärzt:innen-Schemata wie emotionale Vernachlässigung, Aufopferung und unerbittliche Ansprüche.13
Depressive Störungen bei Ärzt:innen
Da depressive Störungen bei dieser Berufsgruppe am häufigsten vorkommen, sollen im Folgenden beispielhaft die Symptomatik und potenzielle Behandlungsziele dargestellt werden:
Mögliche Symptome depressiver Störungen bei „Helfer:innen“
- Niedergeschlagene, depressive Stimmung, Interessenverlust, Antriebslosigkeit
- Freudlosigkeit
- Starke körperliche, emotionale und mentale Erschöpfung
- Suizidgedanken
- Ausgeprägte Selbstzweifel und Zukunftsängste
- Schlafstörungen
- Körperliche Schmerzen oder muskuläre Verspannungen
- Erhöhte Reizbarkeit
- Rückzug aus dem sozialen Leben
- Zynischer oder emotional distanzierter Umgang mit Patient:innen/Klient:innen
- Selbstschädigendes Verhalten, z.B. in Form von Selbstmedikation mit Genuss- und Suchtmitteln oder auch selbst verordneten Medikamenten
Potenzielle Behandlungsziele
- Reduktion des aktuellen seelischen und körperlichen Belastungsniveaus und der Symptome der psychischen Erkrankung
- Erkennen persönlicher Erlebens- und Verhaltensmuster im biografischen Kontext
- Verbesserung der Kommunikations-fähigkeit
- Verbesserung der Emotionswahrnehmung und –regulation (u.a. mit der Idee, dass dies für Arzt-Patienten-Kontakte essenziell ist und bei vielen „Helfer“-Patient:innen eine Tendenz zur Emotionsvermeidung besteht)
- Wiedererleben und Stärkung persönlicher Ressourcen und Etablierung von sinnstiftenden und gesunden Verhaltensweisen.
Fazit
Ärzt:innen als Patient:innen sind (in der Psychotherapie) ein besonderes Klientel und benötigen eine Behandlung, in der sie einerseits ihre „Helfer:innen“-Rolle und eventuell damit verbundene Schwierigkeiten reflektieren und bearbeiten können, und andererseits von einem darin geschulten Team vor allem als Patient:innen gesehen und behandelt werden. In Deutschland mangelt es an einem entsprechenden Problembewusstsein, an niederschwelligen Interventions-Möglichkeiten und an spezialisierten ambulanten und stationären psychotherapeutischen Angeboten.
Dr. med. Maxi Braun
Oberärztin
Psychosomatische Klinik Kloster Dießen
Dießen am Ammersee
Literatur in der Redaktion