Während der Covid-19-Pandemie verzeichnete die Statistik einen deutlichen Anstieg der Fälle von Anorexia nervosa. Frau Prof. Herpertz-Dahlmann, was hat die Pandemie konkret damit zu tun?
Herpertz-Dahlmann: Ich denke, eine ganze Menge. Unsere Patientinnen berichten uns, dass sie durch den schulischen Lockdown jedwede Struktur verloren haben – dadurch, dass Schulzeiten, Freizeit und Sportaktivitäten nicht mehr geregelt waren. Sie berichten, sie hätten das Gefühl, völlig die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Das hatte zur Folge, dass sie sich selbst eine Struktur gegeben haben, zum Beispiel in Form von Workouts oder intensivem Sport. Außerdem hatten sie natürlich viel Zeit, im Internet zu surfen und sich dort ausgiebig mit Figur, Gewicht und Diäten zu beschäftigen. Zum Teil berichten sie auch, sie hätten sich sehr einsam gefühlt, da der Kontakt zu Freunden eingeschränkt war. Das alles führt dann häufig dazu, dass man kritisch über sich selbst nachdenkt. Dazu kommt die Angst davor, dass Angehörige oder sie selbst an COVID-19 erkranken. Das sind alles Faktoren – Angst, Depression, Einsamkeit, intensiver Internetgebrauch –, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Zunahme der Magersucht geführt haben – übrigens nicht auf die Bundesrepublik beschränkt, sondern praktisch in allen Ländern, in denen es den Lockdown gegeben hat.
Dem Klischee nach sind vor allem Mädchen gefährdet, die besonders fleißig und gebildet sind und aus einem familiären Umfeld mit höherem Bildungsstatus kommen. Entspricht das Ihren Erfahrungen?
Ja, das trifft zu. Aber nicht im Sinne der Ursache. Eine Studie hat gezeigt, dass tatsächlich eine genetische Korrelation zu mehr Bildung besteht. Ich glaube, dass bestimmte charakterliche Merkmale mit einer höheren Leistungsbereitschaft verbunden sind. Wenn ich relativ perfektionistisch und sehr diszipliniert bin, dann führt das auch oft dazu, dass ich ein höheres Leistungs-level in der Gesellschaft erreiche.
Welche Rolle spielen hier die Eltern?
Diese alte Theorie, die Eltern hätten besonders hohe Leistungserwartung an ihre Kinder, würde ich als Ursache so nicht unterschreiben wollen. Viele der Untersuchungen, die sich mit der Familienstruktur beschäftigen, sind erst dann entstanden, als das Kind schon jahrelang krank war. Ich wollte jetzt als Mutter nicht wissen, wie ich mich verändern würde, wenn ich ein Kind hätte, das monatelang nicht essen will.
Es gibt sicher Eltern, die sich zumindest mitschuldig fühlen.
Ich halte das ehrlich gesagt für Unsinn. Es gibt tatsächlich eine klare genetische Disposition. So hat die Tochter einer essgestörten Mutter ein zehnfach erhöhtes Risiko, ebenfalls an einer Essstörung zu erkranken, auch wenn sie gar nicht mit ihr zusammenlebt. In der GWAS-Studie von 2019 mit knapp 17.000 Frauen mit Anorexia nervosa weltweit und 55.000 Kontrollpersonen wurden sechs Chromosomen mit acht Genorten identifiziert, die bestimmte Polymorphismen aufweisen. Wir haben also einen Zusammenhang zu genetischen Veränderungen. Aber das hat ja nichts mit Schuld zu tun.
Die genetische Veranlagung allein wird es aber nicht sein.
Ja, klar. In unserer Gesellschaft gibt es kaum ein Mädchen, eine junge Frau, die nicht irgendwann mal Diät macht. Dadurch kann sich die Spirale einer Gewichtsabnahme entwickeln. Wir sehen bei unseren Patientinnen beispielsweise sehr häufig eine vegane Ernährung. Diese Ernährungsform führt in der Regel zu einer Gewichtsabnahme. Eine Studie hat gezeigt, dass das ein erster Hinweis auf die sich entwickelnde Essstörung sein kann. Patienten auf unserer Station ist es nicht erlaubt, vegan zu essen.
Essstörungen sind häufig mit einer Depression vergesellschaftet. Ursache oder Folge?
Sowohl als auch. Ein Merkmal der Depression ist gestörter Appetit. Betroffene essen dann zu wenig. Das kann diesen Abnahme-Mechanismus auslösen, der zur Magersucht führt. Und umgekehrt können durch Magersucht und Gewichtsabnahme bedingte Veränderungen von Neurotransmittern eine Depression auslösen. Da treffen Umwelt und biologische Gründe zusammen. Beides bedingt sich: Man kann über eine Depression in eine Magersucht rutschen, und man kann über die Magersucht eine Depression entwickeln. Das ist wichtig für die Frage, wann man mit einem Antidepressivum behandeln soll. Wenn jemand vorher schon depressiv war und die Depression verschwindet nicht, wenn sich das Gewicht normalisiert hat, dann würde ich tatsächlich auch ein Antidepressivum einsetzen. Voraussetzung ist aber immer eine ausreichende Gewichtszunahme.
Für die Zwangsstörung besteht tatsächlich eine hohe genetische Korrelation zur Magersucht. Schwere Zwangsstörungen würde man natürlich medikamentös und auch verhaltens-therapeutisch behandeln.
Diskutiert wird auch ein Zusammenhang mit der Autismus-Spektrum-Störung. Was halten Sie davon?
Das ist ein großes Thema. Wir finden diese Störung fast nie bei der Erstmanifestation der Magersucht. Wir wissen aber, dass bei der Magersucht neuroprogressive Veränderungen auftreten, die zu psychischen Komorbiditäten führen können. Auch deshalb ist es unglaublich wichtig, die Erkrankung so früh wie nur irgendwie möglich zu erkennen, um genau diese Veränderungen zu vermeiden.
Neu in der Diskussion ist der Begriff „metabolisch-psychiatrische Erkrankung“.
Eine große Studie hat gezeigt, dass es Korrelationen zu bestimmten somatischen Parametern gibt – metabolische Veränderungen, die spiegelbildlich zur Adipositas auftreten. Daher kommt die Bezeichnung metabolisch-psychiatrische Erkrankung. Das hilft dabei, neben der Psychotherapie – die wichtig ist, aber wahrscheinlich alleine nicht ausreicht – auch nach anderen Therapieformen zu suchen. So sind wir auf das Mikrobiom gekommen.
Die Rolle des Mikrobioms wird mittlerweile bei vielen verschiedenen Krankheiten diskutiert.
Es gibt immer Moden. Was dabei letztendlich herauskommt, muss man in zehn Jahren sehen. Was wir zumindest feststellen, ist, dass die Patienten im Vergleich zu Gesunden ein verändertes Mikrobiom haben. Das ist eine Tatsache. Aber ich glaube nicht, dass das die Ursache für die Magersucht ist. Bis zur Gewichtsnormalisierung, ändert sich das Mikrobiom zwar, aber es normalisiert sich nicht. Hier stellt sich die Frage, ob ein verändertes Mikrobiom zu Stoffwechselproblemen führen könnte. Wir haben zum Beispiel bei der Magersucht im akuten Zustand erhöhte Entzündungsparameter, wir finden eine erhöhte Rate an bestimmten entzündlichen Darmerkrankungen, die ja auch mit einem krankhaften Mikro-biom einhergehen, so dass man über mögliche Zusammenhänge nachdenkt. Diese könnten auch dadurch bedingt sein, dass sich jemand monatelang oder jahrelang abnorm ernährt und es dadurch zu einem ganz anderen Mikrobiomwachstum kommt als bei einem Normalgewichtigen – was letztendlich auch zu Darmveränderungen führen kann. Aber das sind alles Hypothesen.
Der Gewichtsverlust ist gewollt. Sind Ihre Patienten überhaupt therapieeinsichtig?
Das ist auch so ein Vorurteil. Ein sehr großer Teil ist therapieeinsichtig. Sie sehen, dass es so nicht mehr weitergeht: Sie können sich in der Schule nicht mehr konzentrieren, sie können ihren Sport nicht mehr ausüben, sie frieren, haben Ohnmachtsanfälle. Sie erkennen, dass der Zustand, den sie leben, nicht normal ist. Sie wissen, dass sie mehr essen müssten, können aber nicht. Diese Patienten sind total bemüht. Aber es ist wahnsinnig schwer für sie. Sie wollen spindeldürr zurück zum normalen Leben. Der therapeutische Weg ist es, zu zeigen, dass das nicht geht. Aber vor allem auch die Frage: Warum ist es für mich so wichtig, dass ich so dünn bin? Was will ich für mich letztendlich erzielen? Gibt es nicht andere Wege, um das, was ich gerne möchte, zu bekommen? Die meisten Menschen mit Magersucht, vor allem auch die jüngsten, haben ein sehr niedriges Selbstwertgefühl. Auch das ist ein wichtiger Ansatzpunkt für die Therapie.
Wie gehen Sie in Ihrer Klinik vor?
Die Kinder haben einen genauen Essensplan mit sechs Mahlzeiten am Tag. Wir starten mit 1.200 Kilokalorien und steigern die Menge langsam. Die Patienten kooperieren bei diesem langsamen Vorgehen besser, als wenn wir schneller vorgehen würden. Der Aufenthalt in der Klinik soll ja keinen strafenden Charakter haben, sondern die Kinder sind krank und brauchen Hilfe. Das sagen wir den Patienten auch immer.
Wie binden Sie die Eltern in die Therapie ein?
Wir versuchen, die Eltern von Anfang an sehr intensiv einzubinden. Wir glauben, dass die Eltern die wichtigsten Ko-Therapeuten sind. Ich halte nichts von Kontaktsperren, die wohl noch in manchen Kliniken praktiziert werden. Bei uns können die Eltern vom ersten Wochenende an kommen und in einem Extra-Raum gemeinsam mit dem Kind eine Mahlzeit einnehmen. Und wir versuchen, wenn es irgend geht, die Kinder bereits am zweiten oder dritten Wochenende für die ersten Mahlzeiten nach Hause zu schicken. Die Eltern haben dann die Verantwortung dafür, dass das Kind ausreichend isst. Diese Familien-basierte Therapie erweist sich als sehr gut. Wenn Sie die Eltern von Anfang an in die Behandlung einbeziehen, sind sie diejenigen, die aus der Krankheit heraushelfen können, anstatt daran schuld zu sein.
Wie sieht die Prognose aus?
Bei der jugendlichen Magersucht ist die Heilungsrate mit etwa 80 Prozent mittlerweile relativ gut. Sie werden vielleicht bei der einen oder anderen Mahlzeit überlegen, ob sie diese essen. Aber sie leben ein normales, zufriedenstellendes Leben, gehen ihrem Beruf nach, haben eine Familie. Bei den Kindern im Alter zwischen neun und 13 Jahren ist die Prognose leider deutlich schlechter.
Woran liegt das?
Ehrlich gesagt, wissen wir es nicht genau. Ein Punkt ist sicher, dass wir hier nicht so gute therapeutische Maßnahmen haben. Die Therapie der jugendlichen Magersucht ist mittlerweile gut evaluiert. Da haben wir unsere Zugangswege, wir wissen, wie wir mit ihnen arbeiten können. Kinder dagegen verstehen ihre Krankheit häufig selbst nicht. Sie wissen gar nicht, warum sie so eine Panik vor dem Essen haben. Sie sind so gequält von der Angst vor dem Essen. Es ist sehr traurig, das mitzu-erleben. Der Einbezug der Eltern ist hier nochmal zentraler als bei den jugendlichen Patienten.
Interview: Cornelia Weber

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Anorexia nervosa: „Die Eltern sind die wichtigsten Ko-Therapeuten“
Welche Ursachen für die Magersucht diskutiert werden, was es mit psychischen Komorbiditäten der Erkrankung auf sich hat und warum die Eltern als Ko-Therapeuten eine extrem wichtige Rolle spielen – Interview mit Prof. Beate Herpertz-Dahlmann, Aachen