äj: Frau Dr. Helmers, wie sind Sie auf „Doctors for Disabled – International“ gestoßen?
Dr. med. Anja Helmers: Ende 2005 bin ich vom Chefarzt der Anästhesie unseres Hauses gefragt worden, ob ich Interesse an medizinischer Hilfe im Ausland hätte. Eine ihm bekannte Organisation würde dringend nach einem Kinderorthopäden zur Behandlung von Klumpfüßen Ausschau halten. In gewisser Weise ist es ein Abenteuer, und mir hat der Gedanke sofort gefallen: So wurde ich Teil des Teams. Im Januar 2006 bin ich daraufhin das erste Mal nach Chalsa/Westbengal in den Norden von Indien gefahren. Wenn man im Ausland arbeitet, lernt man schnell gleichgesinnte Menschen kennen. Über diese Kontakte wurde ich 2008 Mitglied in dem gerade neu gegründeten Verein „Doctors for Disabled – International“ (DfD-I), von dem ich seit 2019 die Vorsitzende bin.
Und wer finanziert das Ganze?
Der Verein finanziert sich ausschließlich über Spendengelder.
Welche Länder nehmen die Hilfe ihres Vereins in Anspruch, in die Sie reisen, und wie wird es organisiert?
Interessanterweise sind es häufig vorbestehende Nothilfen oder Kinderheime in Afrika oder Indien, die ärztliche Unterstützung fordern. Hilfsbereite Menschen aus dem Umfeld der Heime kümmern sich daraufhin um eine entsprechende Organisation und stellen den ersten Kontakt her. Viele Organisationen sind bekannt wie z. B. Christoffel-Blindenmission, Hammer Forum, Interplast, Pro Interplast oder „Kinderfüße brauchen Hilfe“. Ein anderer Weg geht über Kollegen, die kurzfristig eine Unterstützung für ein bestehendes Projekt benötigen und bei uns anfragen. Einige Mitglieder von DfD-I haben selbst ein Projekt auf den Weg gebracht. Nicht selten sind Zufälle im Spiel oder Mund-zu-Mund-Propaganda.
Über die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie haben wir eine Dachorganisation, die AGOUE (Arbeitsgemeinschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie in Entwicklungsländern) gegründet. Hier können sich Kollegen, die bereit sind, im Ausland zu arbeiten, regelmäßig über Einsätze informieren, sich austauschen sowie Unterstützung anfordern. Außerdem werden über die AGOUE regelmäßig im Rahmen von Kongressen der Orthopädie und Unfallchirurgie Fortbildungen zum Thema „Arbeit im Ausland“ veranstaltet.
Ist es leicht, Kollegen für diese gemeinnützige Arbeit zu gewinnen?
Wir hoffen immer, auch junge Kollegen für die Arbeit im Ausland zu interessieren. Das gelingt immer besser.
Könnten Sie uns kurz den Ablauf so einer Reise erklären?
Haben Kollegen ein eigenes Projekt, arbeiten sie nicht selten mit einem Krankenhaus vor Ort zusammen. Je nachdem, wie gut dieses ausgestattet ist, muss Material aus Deutschland in das Projektland transportiert werden. Das ist logistisch aufwendig und teuer. Die Fluggesellschaften geben seit längerem keinen Rabatt für entsprechendes Übergepäck mehr. Muss eine komplette Operationssaalausstattung in das Projektland transportiert werden, kann ein Container mit Schiffstransport genutzt werden. In Indien handhaben wir es häufig so, dass wir Krankenhäuser vor Ort nutzen und denen eine entsprechende Summe pro Patient bezahlen. Je nachdem, welches Personal vor Ort vorhanden ist, muss das Team für einen kinderorthopädischen Einsatz mit den entsprechenden Fachgruppen ausgestattet werden: Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen wie Orthopädie und Anästhesie sowie OP-Pflege, Anästhesiepflege Physiotherapeuten und Orthopädietechnikern.
Wie sind die medizinischen Voraussetzungen vor Ort und wie läuft ein OP-Tag in so einem Krankenhaus ab?
Die Voraussetzungen sind sehr unterschiedlich. In Indien arbeiten wir immer mehr mit komplett ausgestatteten Krankenhäusern zusammen, auch wenn die Bohrmaschine, die häufig bei kinderorthopädischen Operationen benötigt wird, aus dem Baumarkt kommt.
Das klingt abenteuerlich …
Ja, es gibt auch Krankenhäuser, da fehlt es an vielen Dingen wie Instrumenten, Desinfektionsmitteln, Verbandsmaterial und Medikamenten. In solchen Fällen muss alles mitgebracht werden, einschließlich Licht im Operationssaal.
Leiten Sie die Ärzte und Schwestern dort an, damit sie später selbst operieren und assistieren können?
Unser Verein DfD-I hat sich besonders der Nachhaltigkeit verschrieben. Es ist uns ein besonderes Anliegen, interessiertem medizinischem Personal unser Wissen weiterzugeben.
Welche Methode wenden Sie beim angeborenen Klumpfuß an?
In der Behandlung von angeborenen Klumpfüßen steht uns in Europa seit ca. 20 Jahren die Ponseti-Methode zur Verfügung. Diese Methode ist kostengünstig und mit wenig personellem Aufwand zu betreiben. In den letzten Jahren konnten in Afrika und Indien eigenständige Behandlungszentren auch mit Unterstützung von DfD-I aufgebaut werden. Die größten Probleme entstehen bei sehr armen Familien, die von weit her zu den Zentren reisen müssen und kaum Geld für die Reise- und Materialkosten aufbringen können, selbst wenn diese niedrig sind. Eine unser großen nicht medizinischen Aufgaben ist es daher, finanzielle Unterstützung der jeweiligen Landesregierungen zu erwirken oder genügend Spendengelder zu bekommen.
Gibt es auch mal „böse“ Überraschungen?
Ja, die gibt es auch. Zum Beispiel, wenn während der Operation plötzlich der Strom ausfällt und man im Operationssaal im Dunkeln sitzt. Ich habe gelernt, mir eine batteriebetriebene Stirnlampe zu meinen Einsätzen mitzunehmen.
In Mali haben wir es einmal erlebt, dass wir mit drei Kollegen und einem Ponseti-Behandlungszentrum zur Behandlung von angeborenen Klumpfüßen für eine Supervision der Methodik verabredet waren. Unsere Kollegen haben dafür unbezahlten Urlaub genommen. Vor Ort gab es zum verabredeten Termin keine Gipsmaterialien, und die entsprechenden Kollegen des Zentrums sind drei Tage lang nicht erschienen. Solche Erfahrungen sind bitter, aber sie kommen vor.
Aber schöne Erlebnisse haben Sie doch sicher auch. Welches hat Sie besonders beeindruckt?
Das Schönste, was ich erlebt habe, ergab sich durch die Behandlung eines neunjährigen Jungen mit beidseitigen Klumpfüßen, die von uns operativ korrigiert wurden. Er lebte in einem Kinderheim im Norden von Indien. Damals war die Bevölkerung uns gegenüber noch sehr zurückhaltend und trat uns skeptisch gegenüber. Dieser Junge hatte einen Freund, ebenfalls mit beidseitigen Klumpfüßen. Dieser Freund wollte unbedingt von uns operiert werden, nachdem er die korrigierten Füße seines Freundes gesehen hatte. Seine Familie aber lehnte ab. Es kam zu einem beeindruckenden Streit innerhalb der Familienangehörigen, und der sehr alte Großvater des Jungen kam und wollte den Jungen persönlich mit nach Hause nehmen. Am Ende hat sich der Junge gegen die gesamte Familie durchgesetzt und wurde operiert. Diese Verhandlung zwischen dem Jungen und seiner Familie hat mich sehr beeindruckt. Wenn man ein wenig über die autoritären Familienverhältnisse in Indien Bescheid weiß, dann kann man sich vorstellen, wie viel Mut es den Jungen gekostet hat, sich gegen die Familienmitglieder durchzusetzen. Er hätte für immer aus der Familie verstoßen werden können. Interessanterweise ist die Mutter des Jungen heute unsere größte Anhängerin und bringt junge Mütter mit Kindern, die Klumpfüße haben, in das von uns gegründete Ponseti-Behandlungszentrum.
Wie ist die Erfolgsquote, wenn Sie wieder abreisen und z.B. nach ein paar Jahren wiederkommen?
Sie sind gut, sonst darf man operative Einsätze nicht wiederholt durchführen. Selbstverständlich kontrollieren wir die Qualität unserer Operationen bei jedem Einsatz, indem wir die Kinder der letzten Jahre zur Verlaufskontrolle einbestellen und nachuntersuchen. Sicherlich kommen nicht alle Kinder zurück, was nicht selten an einer großen Distanz zwischen Behandlungszentrum und Wohnort liegt oder die Eltern den Handytarif wechseln und nicht mehr erreichbar sind. Aber ein großer Teil der Kinder wird regelmäßig kontrolliert oder die Operationstechniken den Gegebenheiten angepasst.
Worauf muss man bei der Nachsorge besonders Acht geben?
Wichtig bei kinderorthopädischen Einsätzen ist die Nachbehandlung mit Orthesen. Das bedeutet, wir benötigen gute Orthopädietechniker vor Ort, die die Kinder regelmäßig an das Wachstum angepasst wieder mit Orthesen versorgen. Orthesen sind von außen angelegte Apparate, die die durch die Operation gewonnene Korrektur halten oder nachformen.
Was gibt Ihnen diese Arbeit persönlich?
Ich liebe es, mit den Kollegen vor Ort zu arbeiten. Man lernt Land und Menschen so viel besser kennen, in dem man zusammen arbeitet. Das gibt mir sehr viel und fördert meine Toleranz gegenüber anderen Kulturen sowie die Selbstreflexion. Es ist nicht alles besser im eigenen Land, auch wenn es uns oberflächlich gesehen an nichts mangelt. Arme Menschen können sehr viel Freude ausstrahlen, was ich sehr bewundere, gerade wenn die Lebensbedingungen dieser Menschen in unseren Augen katastrophal sind.
Könnten Sie sich vorstellen, nur noch für DfD-I zu arbeiten?
Darüber denke ich jedes Mal nach, wenn ich einen Einsatz beende. Ich reise nie gerne wieder ab. Aber meine Familie lebt in Deutschland, und die würde mir fehlen.
Verständlich! Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich wünsche mir mehr Unterstützung der Länder und ihrer Regierungen. Es ist zwingend erforderlich, die Bildung und medizinische Versorgung in entwicklungsschwachen Ländern finanziell zu fördern und zu intensivieren. Das sollte jede Regierung ernst nehmen und entsprechende Konzepte erarbeiten. Leider verlassen sich viele Landesregierungen immer noch darauf, dass es Vereinigungen gibt, die die Versorgung ihrer finanzschwachen Patienten übernimmt, auch wenn das eigentlich Landesaufgabe ist.
Interview: Frauke van der Beek
Doctors for Disabled – International e.V.
Hilfe zur kinderorthopädischen sowie kindertraumatologischen Selbsthilfe
Mitglied der AG Orthopädie und Unfallchirurgie in Entwicklungsländern (AGOUE) der DGOU
Mitglied der VKO (Vereinigung für Kinderorthopädie)
Präsidentin: Dr. med. Anja Helmers (Leitende Ärztin Zentrum für Kinder- und Jugendorthopädie, Ev. Waldkrankenhaus Spandau)
Infos: www.doctorsfordisabled-international.com
E-Mail: dfd.international@gmail.com
Spendenkonto
Kreissparkasse Ostalb
IBAN: DE93 6145 0050 1000 0000 23
BIC: OASPDE6AXXX
(Spendenbescheinigungen auf Anfrage erhältlich)