Frau Dr. Paepke, Sie arbeiten als Komplementärmedizinerin im Bereich Onkologie. Wie stark wird Ihre Unterstützung nachgefragt?
Der Bedarf an komplementärmedizinischer Beratung zusätzlich zur Schulmedizin ist mit etwa 50 bis 70 Prozent relativ hoch. Wir haben in unserer Klinik bei den gynäkologischen Patientinnen, vor allem Brustkrebs-Patientinnen, eine Umfrage durchgeführt. In dieser Gruppe lag der Wunsch nach komplementärmedizinischer Beratung bei 64 Prozent – wobei man in einer Uniklinik eher nicht vermuten würde, dass die Patienten komplementärmedizinische Beratung nachfragen. Ganz spannend fand ich auch eine Abfrage in unserer Tagesklink bei allen Patienten unter Chemotherapie. Hier haben 72 Prozent der Patienten angegeben, dass sie zusätzlich Medikamente aus dem Bereich der Komplementärmedizin einnehmen.
Geschieht das in Rücksprache mit dem behandelnden Arzt/der Ärztin oder in Eigeninitiative?
Wir bieten komplementäre Maßnahmen an. Wo aber kein Angebot vorhanden ist, ist der Ansprechpartner der Heilpraktiker, die Selbsthilfegruppe, die Freundin, der Apotheker und im besten Falle der Hausarzt.
Sehen Sie darin ein Problem?
Das Problem ist selbstgemacht: Wenn Ärzte die Komplementärmedizin nicht anbieten, wo sollen die Patienten dann hin? Wer den Beruf der Heilpraktiker abschaffen will, muss eine Alternative bieten. Ich kenne Patienten, die zum Amazonas geflogen sind oder mit Heilern in Kontakt stehen. Das ist richtiger Humbug. Deshalb müssen wir Ärzte dieses Angebot schaffen.
Wie sehen Sie das Problem von Interaktionen mit schulmedizinischen Therapien?
Es gibt wenige Interaktionen. Da muss man die Kirche im Dorf lassen. Wenn eine Patientin ein Phytotherapeutikum in hoher Dosierung einnimmt und ich die Wirkung nicht kenne, dann veranlasse ich eine Interaktionen-Analyse über unsere Apotheker. Hilfreich ist hier auch die Webseite des Memorial Sloan Kettering Cancer Centers „about herbs“. Seit November letzten Jahres gibt es zudem die S3-Leitlinie „Komplementärmedizin“. Sie gibt an, was etabliert ist, wann eine Kann-Empfehlung ausgesprochen wird und wofür es eine Negativ-Empfehlung gibt.
Welche Ziele verfolgen Sie mit komplementärmedizinischen Maßnahmen?
Im Prinzip geht es erstmal darum, besser durch die Chemotherapie zu kommen. Ich mache für jede dieser Patientinnen einen eigenen Therapieplan mit dem kompletten Konzept: Ernährung, Sport, Wickel und äußere Anwendungen sowie Mistel. Am Haarausfall kann ich nichts ändern, aber den Rest kann ich den Patientinnen erträglich machen. Das betrifft zum Beispiel die Übelkeit, die Fatigue, die Polyneuropathie. Außerdem schicken mir niedergelassene Kollegen immer wieder Patienten, die eine Chemotherapie ablehnen, mit der Bitte, dass ich mit ihnen spreche. Wenn man den Patienten sagt: Ich kann verstehen, dass Sie das nicht wollen, aber ich bringe Sie durch die Chemotherapie mit weniger Nebenwirkungen, dann stimmen sie der Behandlung zu. Aber es geht nicht nur um die Nebenwirkungen: Ich habe viele Patienten beispielsweise mit Pankreas- oder Gallengangkarzinomen, die mit komplementärmedizinischer Betreuung länger leben. Das mögen Einzelfälle sein. Aber für diese Patienten ist das enorm wichtig. Vielleicht liegt es ja auch nur daran, dass die Chemotherapie aufgrund von Nebenwirkungen weniger oft abgebrochen oder reduziert werden muss.
Die AGO empfiehlt 150 Minuten in der Woche Ausdauersport. Ist das vermittelbar?
Sport ist essenziell gegen die Fatigue. Es geht den Patienten besser damit. Davon muss man sie verständnisvoll überzeugen. Diejenigen Patienten, die keinen Sport machen und unter der Chemotherapie an Gewicht zunehmen, haben den höchsten Grad an Fatigue. Bewegung heißt zum Beispiel 30 Minuten am Tag schnelles Gehen, Fahrradfahren oder Schwimmen – und zweimal in der Woche Krafttraining oder Zirkeltraining im Fitnessstudio. Das muss gemacht werden, weil die Daten – die hochrangig publiziert sind – so gut sind. Man fühlt sich besser, tut etwas für das Überleben und sieht besser aus – wenn man das so erklärt, dann sind viele Patienten dazu bereit.
Es gibt eine Kann-Empfehlung für Ginseng. Wie sehen Sie das?
Die AGO-Leitlinie vergibt ein Minus unter laufender Chemotherapie/Systemtherapie, weil man nicht weiß, ob es zu Interaktionen kommen kann. Einen Versuch mit Ginseng für vier Wochen würde ich zum Beispiel bei einer Patientin mit triple-negativem Mammakarzinom nach erfolgter Systemtherapie machen, die unter Fatigue und Libidoverlust leidet. Unter einer laufenden Therapie, zu Beispiel einer Antihormontherapie, wäre ich dagegen vorsichtig.
Für die Mistel gibt es ebenfalls eine Kann-Empfehlung.
Das finde ich schade. Das sollte eigentlich eine Sollte-Empfehlung sein. Denn die Datenlage hat das Level einer Evidenz von 1a. Es gibt Studien, die einen Benefit für das Überleben gezeigt haben. Und es gibt keine Negativ-Studie in Bezug auf die Lebensqualität, Interaktionen oder Tumorwachstum sowie auf das Gesamt-überleben. Die Patienten merken, dass es ihnen besser geht. Sie fühlen sich wohler, fitter, schlafen besser. Deshalb kann ich die Beurteilung, die die Mistel auf die selbe Stufe wie Ginseng stellt, nicht nachvollziehen.
Sie haben die Ernährung angesprochen.
Viele Patienten glauben, sie bräuchten eine bestimmte Diät. Das brauchen sie nicht. Es gibt aber Daten, die gezeigt haben, dass Brustkrebs-Patientinnen, die mehr als 13 Stunden nachts nichts essen, weniger häufig ein Rediziv erleiden. Tagsüber empfehle ich drei gesunde Mahlzeiten und dazwischen nichts, auch keine Apfelschorle, kein Milchkaffee, kein Smoothy, kein Espresso mit Zucker. Dadurch vermeidet man, dass es zwischendurch immer wieder zu Blutzuckerspitzen kommt. Außerdem kein Alkohol und keine Zigaretten.
Die AGO empfiehlt, den Alkohol- und Tabakkonsum lediglich zu reduzieren.
Das halte ich für Unsinn. Man kann nicht sagen, dass drei Zigaretten am Tag noch gesund sind. Ich sage meinen Patienten: Wenn Sie sich jeden Tag vergiften, indem Sie sich fehlernähren, indem Sie Alkohol trinken und rauchen – dann müssen Sie sich entscheiden, was Sie im Leben wollen und was Sie selbst dazu beitragen, um gesund zu werden.
Kollegen aus der Ernährungsmedizin beklagen, dass ihr Bereich unterbewertet ist. Sehen Sie das auch so?
Absolut. Bei Patienten, die nicht kachektisch sind, wirkt die Chemotherapie besser, sie leben länger und die Verweildauer in der Klinik ist kürzer. Es gibt Rechnungen, die das ganz klar zeigen. Es stimmt also nicht, dass eine entsprechende ernährungsmedizinische Betreuung Mehrkosten verursachen würde.
Sehen Sie die Komplementärmedizin als -Stiefkinder der Medizin?
Auf jeden Fall. Die integrative Medizin sollte Bestandteil des Studiums bzw. der ärztlichen Ausbildung werden. Zudem sollte man an jedem Zentrum – so wie hier an der Uniklinik – einen Komplementärmediziner einsetzen. Sinnvoll wäre es, wenn jeden Tag ein Ernährungsmediziner, ein Physiotherapeut und ein Komplementärmediziner zur Verfügung stehen würden. Dann müssten die Patienten nicht außerhalb der schulmedizinischen Versorgung einen Heilpraktiker aufsuchen.
Interview: Cornelia Weber
Priv.-Doz. Dr. med. Daniela Paepke, Oberärztin, Interdisziplinäres Brustzentrum, Frauenklinik rechts der Isar der TU-München