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Medizin

Schlaganfall
© AdobeStock/Chinnapong

ESOC 2021: Viele neue Daten, aber auch neue Fragen

Die auf der European Stroke Organization Conference (ESOC) 2021 vorgestellten Daten gaben viele neue Einblicke in das Schlaganfall-Management, aber längst nicht alle Fragen konnten beantwortet werden.

Im Jahr 2018 zeigten die DAWN- und DEFUSE-3-Studien, dass bei ausgewählten Patienten die mechanische Thrombektomie (MT) auch im Zeitfenster von 6 Stunden bis zu 24 Stunden zu einem deutlich besseren langfristigen neurologischen Ergebnis auf der mRS (modified Rankin Scale) führt als die bisher standardmäßig genutzte medikamentöse Therapie. Beide Studien benutzten jedoch unterschiedliche Einschlusskriterien: ein radiologisches Mismatch (Perfusion-Imaging) entweder zwischen dem Infarktkern und der noch „rettbaren“ Penumbra (DEFUSE‑3) oder zwischen dem Infarktkern und der klinischen Präsentation (DAWN). Eine aktuelle Meta-analyse der beiden Studien sowie der kleineren Studien REVASCAT, ESCAPE, RESILENT und POSITIVE konnte jetzt zeigen, dass beide Mismatch-Konzepte vergleichbar sind und in dem 6–24 Stunden-Zeitfenster anwendbar sind1.

Time is brain

Die endovaskuläre Therapie (EVT) ist ein großer Schritt in der Schlaganfalltherapie. Jede Sekunde Verzögerung führt nach einer neuen Metaanalyse von sieben randomisierten, klinischen Studien (RCT) zu dem Verlust an etwa 2,2 Stunden gesunder Lebenszeit2. Viel Zeit wird dabei in der Klinik nach dem Ende der Lysetherapie (IVT) und dem Beginn der EVT unnötig verloren. Dies zeigt eine Analyse des französischen ETIS-Registers mit knapp 2.000 Patienten mit IVT und EVT. Die Diskussion auf dem ESOC zeigte, dass es hier noch keine klare Adjustierung für den EVT-Beginn gibt. Generell gilt daher auch in diesem Setting „IVT so schnell wie möglich und EVT so schnell wie möglich“3.

Neue Auswertungen der MR CLEAN-MED-Studie zeigen, dass die Behandlung mit Acetylsalicylsäure (ASS) oder Heparin das Risiko symptomatischer intrakranieller Blutungen (sICH) etwa verdoppelt, wenn die Substanzen während einer EVT verabreicht werden. In die Studie wurden 628 Patienten (im Mittel 73 Jahre, 53% Männer) eingeschlossen; etwa 74% der Patienten erhielten eine IV-Thrombolyse. Das erhöhte sICH-Risiko erklärt sich zumindest zu einem Teil aus der nicht signifikanten Verschiebung hin zu einem schlechteren funktionellen Ergebnis, so die Prüfärzte4.

Der optimale Zeitpunkt für den Beginn einer Therapie mit NOAKs (Non-Vitamin K-Antagonisten) ist noch unbekannt. Die TIMING-Studie untersucht die Effektivität und Sicherheit einer frühen Gabe bereits 4 Tage nach dem Schlaganfallereignis im Vergleich zu einem Beginn nach 5–10 Tagen. Ausgewertet wurden 888 Patienten (im Mittel 78 Jahre, 54% Männer) mit ischämischem Schlaganfall aus dem Swedish Stroke Register. Als Outcome wurde ein kombinierter primärer Endpunkt (ischämischer Schlaganfall, intrazerebrale Blutungen oder Tod jeglicher Ursache) nach 90 Tagen bestimmt. Dabei erwies sich eine frühe NOAK-Gabe als nicht-unterlegen gegenüber der späten Gabe, wobei bei früher Gabe sogar signifikant weniger Patienten den primären Endpunkt erreichten – 31/450 (6,89%) – als bei späterer Gabe 38/438 (8,68%; p=0,004). Die Frage, welcher Zeitpunkt für den Beginn der NOAK-Gabe besser ist, bleibt also noch offen. Weitere Erkenntnisse erhofft man sich von den Ergebnissen der noch laufenden Studien OPTIMAS, ELA und START, welche die gleiche Frage untersuchen5.

Dr. Alexander Kretzschmar

Quelle: 7th European Stroke Conference – Virtual vom 1. bis 3. September 2021.

Literatur:

1. Albers GW et al. JAMA Neurol 2021; 78: 1064-1071.
2. Alkmekhlafi MA et al. JAMA Neurol 2021; 78: 709-717.
3. Zhu F et all. Ann Neurol 2021; 89: 511-519.
4. Van der Steen W et al. ESOC 2021; Abstract PO0004.
5. Oldgren J et al. ESOC 2021; Abstract PO0020B