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Neurologie-Psychiatrie

Symbolbild Schwindel
Häufiges Symptom – viele mögliche Ursachen: Das Risiko, im Laufe des Lebens eine Schwindelerkrankung zu erleiden, liegt bei 30 bis 40%.
© AdobeStock/visualpower

Schwindel diagnostizieren: Gut zuhören und körperlich untersuchen

Um Schwindel zu diagnostizieren, sind der zeitliche Verlauf, die Begleitsymptome und modulierende Faktoren wichtig. Die körperliche Untersuchung klärt, ob das Gleichgewichtsorgan gestört ist oder ein organisches Defizit vorliegt.

Die Einjahresprävalenz für das Symptom Schwindel liegt bei etwa 11%. Die beste Informationsquelle für die Diagnosestellung ist laut Prof. Michael Strupp, München, der Patient selbst. Vier Faktoren müssen in der Anamnese geklärt werden: Der zeitliche Verlauf, auslösende und modulierende Faktoren und Begleitsymptome. Die Form des Schwindels hält Strupp dagegen für nicht ganz so relevant.

Erster Hinweis:  Zeitlicher Verlauf

Von episodischem Schwindel spricht man, wenn die Beschwerden immer wieder für Sekunden bis Stunden auftreten. Halten die Attacken weniger als einige Minuten an, kann es sich um einen gutartigen Lagerungsschwindel oder um eine vestibuläre Paroxysmie handeln. Dauert der Schwindel Minuten bis Stunden, sind vestibuläre Migräne oder Morbus Meniere möglich.

Ein Patient hatte in drei Jahren zehn Schwindelattacken, bei denen ihm schlecht und sehr schwindlig wurde, er nicht mehr laufen konnte und sich hinlegen musste. Während der Anfälle konnte er auf dem linken Ohr fast nicht mehr hören und die Attacken dauerten ein paar Stunden bis Tage. Diagnose: Rezidivierende Schwindelepisoden mit Hörstörungen sind typisch für Morbus Meniere. Unterstützt wird die Diagnosestellung idealerweise durch ein Audiogramm.
Die Datenlage für die Therapie ist schlecht, Strupp empfiehlt über zwölf Monate mindestens 3x96mg Betahistidin zu geben, kombiniert mit 5mg Selegilin oder 1mg Rasagilin täglich.

Hirninfarkt: akuter Beginn, Symptomatik anhaltend

Ein 70jähriger Patient mit zahlreichen Gefäß-risikofaktoren klagt über seit acht Stunden andauernden Schwindel. Bei Patienten mit akutem Beginn, bei denen die Beschwerden Tage bis wenige Wochen andauern, vermutet Strupp einen Hirnstamm- oder Kleinhirninfarkt. Persistiert der Schwindel mehr als drei Monate, können die Gleichgewichtsorgane beidseitig ausgefallen sein, ein beginnender Parkinson oder ein funktioneller Schwindel vorliegen.

Auf Begleitsymptome und modulierende Faktoren achten

Die Differenzierung zwischen Dreh- und Schwankschwindel hält Strupp für weniger entscheidend. Wichtiger sei zu erfragen, ob es auslösende und modulierende Faktoren gibt wie Lageänderung, Aktivität, Helligkeit, Tageszeit oder Druckänderung. Wertvolle Hinweise geben auch die potenziellen Begleitsymptome: Ohrsymptome, zentrale Symptome wie Hemiparese, Hemihypästhesie und Hemiataxie.

Kopfschmerzen, Licht- und Lärmempfindlichkeit sowie Migräne in der Vorgeschichte sind wichtige Kriterien für eine Schwindelmigräne, vegetative Symptome hingegen führen nicht weiter.

Eine Patientin kommt mit immer wieder auftretenden Schwindelattacken, die zwischen etwa 18 Stunden und zwei Tagen andauern, in die Sprechstunde. Sie hatte bisher mehrere leichte und fünf oder sechs schwere Attacken, die von Übelkeit, Kopfschmerzen und Licht- oder Lärmempfindlichkeit begleitet waren. Strupp stellt hier beispielhaft die Diagnose vestibuläre Migräne – entweder aktive Migräne oder Migräne in der Krankengeschichte und rezidivierende Episoden mit Schwindel. Zu der Behandlung gibt es bisher keine positiven klinischen Studien, akute Attacken werden mit nichtsteroidalen Antiphlogistika und Antiemetika behandelt. Vorgebeugt wird den Attacken mit Betablockern, Topiramat oder bei Kindern mit Magnesium.

Organisches Defizit oder vestibuläre Störung?

Die körperliche Untersuchung soll zwei Kernfragen klären, nämlich ob ein organisches Defizit besteht und ob es sich um eine zentrale oder eine periphere vestibuläre Störung handelt.

Ein Nystagmus kann mit einer F- oder M-Brille leicht als peripher oder spontan erkannt werden: Der Patient kann einen peripheren Nystagmus durch Fixation teilweise unterdrücken. Als Beispiel nennt Strupp die Neuritis vestibularis. „Ein Nystagmus, der nicht durch Fixation unterdrückt wird, ist nicht peripher, sondern ein Hinweis auf eine zentrale Läsion“, so Strupp. Die Funktion des vestibulo-okulären Reflexes kann leicht mit dem Kopfdrehtest überprüft werden. Der Reflex kann einseitig oder beidseitig ausfallen. Der beidseitige Ausfall ist die häufigste Ursache für bewegungsabhängigen Schwankschwindel beim älteren Patienten.

Mit allen Patienten soll ein Lagerungsmanöver durchgeführt werden, um einen gutartigen Lagerungsschwindel erkennen zu können. Auch ein Rombergtest ist bei allen Patienten sinnvoll. Mit dessen Hilfe kann eine Störung des Gleichgewichtssinns diagnostiziert werden.

Relevant bei Patienten mit akutem Schwindel: Lässt sich ein Nystagmus durch Fixation nicht reduzieren, ist er nicht peripher verursacht. Wechselt der Nystagmus die spontane Richtung, wenn der Patient in die andere Richtung blickt, ist das ein Zeichen für eine zentrale Störung. Hat ein Patient akuten Schwindel, einen Nystagmus und der Kopfdrehtest ist normal, ist die Störung nicht peripher.

Zentraler Schwindel als Notfall

Einer Patientin wurde schwindelig und schlecht, als sie sich auf die Bettkante gesetzt und sich gebückt hat. Sie musste ihren Mann zur Hilfe rufen, weil die Symptome so schwer waren, dass sie sich nicht helfen konnte. Etwa 30 Minuten später bekam sie Kopfschmerzen im Nackenbereich. „Akuter Schwindel mit Kopfschmerzen im Nacken, der zum ersten Mal auftritt: Vorsicht, das ist keine vestibuläre Migräne“, mahnt Strupp. „Die Patientin hatte ein offenes Foramen ovale und eine Basilaristhrombose, die sofort behandelt werden musste“.

Bei zentralem Schwindel als Notfall seien Alter, Blutdruck, Symptomdauer und bestehender Diabetes wichtige Aspekte. „Fragen Sie nach Gefäßrisikofaktoren. Wenn der ABCD-Score hoch ist, deutet das eher auf einen Schlaganfall hin.“, Ebenfalls für eine Schlaganfall spreche, wenn die Episode erstmals auftritt, der Beginn akut ist – „akuter Schwankschwindel ist praktisch immer  ein Schlaganfall“ –, der Schwindel länger andauert, spontan auftritt und es Anzeichen für eine zentrale Ursache gibt. Solche Patienten werden als Notfall in die Klinik aufgenommen, idealerweise in eine Stroke-Unit.

In den vergangenen zwölf Jahren sind alle Schwindelerkrankungen reklassifiziert worden. Die neuen Diagnosekriterien lassen sich auf www.jvr-web.org/ICVD.html herunterladen.

Roland Müller-Waldeck

Quelle: Fortbildungsveranstaltung der Digitalen Campuswoche von MSD  „Diagnose und Therapie von Schwindelsyndrome“ am 18.11.2022