Frau Prof. Mangelsdorf, können Sie kurz das Konzept der Positiven Psychologie skizzieren und erklären, wie sie sich von den anderen Formen der Psychologie unterscheidet?
Mangelsdorf: Die Positive Psychologie ist eine Fachrichtung der allgemeinen Psychologie und wird oft bezeichnet als die Wissenschaft des erfüllten Lebens. Sie möchte herausfinden, was eigentlich ein Leben mit hoher Lebensqualität und Lebenszufriedenheit ausmacht und was psychologische Gelingensfaktoren sind, die zu einem glücklichen und erfüllten Leben beitragen. Sie ist weniger fokussiert auf Defizite und Krankheitsbilder, sie fragt eher, wann läuft es richtig gut und was macht das Gute in Menschen aus.
Nach Martin Seligmann gibt es fünf Elemente, die zum Wohlbefinden beitragen. Welche sind das und wie können sie zur Heilung psychischer Erkrankungen betragen?
Eine der zentralsten Fragen der Positiven Psychologie ist, was bringen Menschen mit, die ein hohes Maß an Flourishing oder Lebensglück haben. Darauf gibt es von verschiedenen Forschern verschiedene Antworten und man kennt eine große Zahl von Faktoren, die Glück beeinflussen. Das Konzept von Martin Seligmann besagt, dass es fünf Säulen gibt, die PERMA-Säulen, die das glückliche Leben im wesentlichen ausmachen:
- Positive Emotionen, das heißt, ich erlebe regelmäßig Positivität im Alltag und kann trotz Trauer oder Wut immer wieder positive Emotionen herstellen.
- Dann das Thema Engagement: Ich habe etwas im Leben, wofür ich wirklich brenne, was mich regelmäßig in Flow bringt und wo ich meine Stärken kenne.
- Das R steht für Relationships oder Beziehungen. Dahinter verbirgt sich die Frage: habe ich wirklich erfüllte und tiefe Beziehungen, die mich durch das Leben tragen und in guten wie in schlechten Zeiten bestehen.
- M steht für Meaning oder Lebenssinn, mit anderen Worten: Weiß ich, warum ich morgens den Fuß aus dem Bett setze, wofür ich in dieser Welt eigentlich da bin und lebe ich diesen Sinn auch.
- Das A schließlich steht für Accomplishment, also Selbstwirksamkeit und Erfolgserleben: Bin ich erfolgreich in dem was ich tue und erreiche meine Ziele. Allerdings gibt es noch andere Modelle und der kulturübergreifend am häufigsten genannte Faktor fehlt im PERMA-Modell von Seligmann, nämlich Harmonie und Balance im Leben.
Was können Menschen tun, um zum Beispiel aus einer depressiven Phase gestärkt herauszukommen?
Die positive Psychologie ist kein Allheilmittel, aber sie kann, kombiniert mit klassischen therapeutischen Verfahren, die Ergebnisse deutlich verbessern. Einem Patienten mit einer Depression würde ich drei Zugänge raten: Eine klassische Therapie, die die Frage stellt, aus welcher Situation die Depression entstanden ist und was sich verändern muss, damit es dem Patienten besser gehen kann. Der zweite Zugang ist physiologisch: Das beste Antidepressivum dieser Welt sind Sport und regelmäßige Bewegung. Jetzt zur Positiven Psychologie: Viele Ansätze der Positiven Psychologie, wie die Stärkenorientierung, der Blick auf das, was da ist und nicht das, was fehlt und die Sinnorientierung haben antidepressive Wirkung. Eine unterstützende Methode ist beispielsweise das Dankbarkeitstagebuch, Das heißt, ich schreibe abends auf, wofür ich dankbar bin, was gut gelaufen ist. Besonders depressive Patienten leiden an einer negativ verzerrten Wahrnehmung, so dass die kritischen Momente des Alltags prominenter sind als das Gute, was ihnen begegnet ist. Ein weiteres wichtiges Thema ist Achtsamkeit, das heißt bewusst wahrnehmen, den Alltag entschleunigen, Digital Detox zu betreiben und bewusstes Atmen und Sein wieder in den Alltag zu integrieren. Ein dritter Faktor ist, Selbstmitgefühl aufzubauen, das heißt, sich selbst ein Verbündeter und kein Feind zu sein, die innere Stimme zu kultivieren, die mir sagt: „Du bist in Ordnung so wie du bist“. Das sind schon drei sehr große Wege, die dabei helfen können, mehr in psychische Gesundheit hinein zu finden.
Um die 5 Elemente zu stärken, muss der Patient aktiv etwas tun. Was tun Sie mit Patienten, die z.B. wegen einer Depression die Energie dafür nicht aufbringen können?
Das ist der Grund, warum ich sage, die Positive Psychologie allein kann beispielsweise schwer depressiven Patienten nicht ausreichend helfen. Abhängig von Schweregrad braucht es erst Medikamente, bevor der Patient eine Therapie machen kann oder Aktivierung, damit er sich wieder bewegen kann. Ich brauche ein bestimmtes Funktionsniveau, um die Methoden der Positiven Psychologie anwenden zu können.
Der Ukraine-Krieg schockiert viele Menschen bei uns, weil er fundamentale Lebenserfahrungen und Grundannahmen über unsere Sicherheit und unsere Welt in Frage stellt. Was für Folgen hat das und wie kann Positive Psychologie helfen?
Was sie beschreiben, ist das Phänomen der Erschütterung fundamentaler Grundannahmen. Jeder von uns hat innere Vorstellungen von der Welt, in der wir leben. Diese Vorstellungen werden von plötzlichen dramatischen Erfahrungen, wie der Konfrontation mit Krieg zerstört und wir müssen ein neues Verständnis von den Menschen und der Welt aufbauen. Das ist ein durchaus schmerzhafter Prozess, aber er birgt das Potenzial, dass mein Verständnis von den Menschen und der Welt , anschließend tiefer oder komplexer ist.
Wir haben drei der Faktoren untersucht, die diesen Prozess unterstützen: Soziale Unterstützung hilft, das heißt, sich mit diesen Fragen nicht allein auseinander zu setzen, sondern sich professionelle oder Hilfe im persönlichen Kontakt zu suchen und sich gemeinsam dem Unfassbaren zu widmen. Der zweite Punkt ist die Anwesenheit positiver Emotionen: Wenn wir neue innere Realitäten aufbauen wollen, brauchen wir mindestens punktuell positive Emotionen, um neue Gedankenmuster zu entwickeln, um anders in soziale Beziehungen zu treten und um wieder selbstwirksam zu werden. Der Dritte Faktor ist der Sinn: Wir integrieren dann solche Erschütterungen besser, wenn wie die Frage „Wofür war es wichtig?“ beantworten können. Auch wenn die Erfahrung selbst furchtbar und sinnlos ist, ist es hilfreich, Sinn aus ihr zu schöpfen und persönlich wirksam zu werden.
Interview: Roland Müller-Waldeck