In Deutschland leben nach Schätzungen ca. 8,2 Millionen Menschen, die Aufgrund einer Erkrankung oder Therapie ein geschwächtes Immunsystem haben. Insbesondere immungeschwächte Hochrisikopatient:innen sind jedoch nicht ausreichend gegen impfpräventable Erkrankungen geschützt, obwohl das Risiko für Erkrankungen und schwere Verläufe deutlich erhöht ist. Gerade diese Gruppe der durch die Immunsuppression besonders gefährdeten Patient:innen spricht aufgrund der Erkrankung bzw. Therapie auf Impfungen auch noch schlechter an. Um so wichtiger ist es, eine möglichst vollständige Durchimpfung dieser Patient:innen in den Praxen zu erreichen.
Die niedrigen Durchimpfungsraten - beispielsweise waren 2021 nur ca. 4 % der Immunsupprimierten korrekt sequenziell gegen Pneumokokken geimpft - hängen auch stark mit der mangelnden Aufklärung zusammen. In einer Umfrage von 2019 war nur etwas mehr als der Hälfte der Patienten bewusst, dass sie ein erhöhtes Infektionsrisiko haben. Häufig kommt von den Praxen die Aufklärung zu kurz oder wird von Patientenseite nicht adäquat wahrgenommen. In vielen Facharztpraxen werden zwar immunsupprimierende Medikamente eingesetzt, aber keine Impfungen durchgeführt und hier auf den Hausarzt verwiesen.
Bei der inzwischen sehr komplexen Vielzahl an immunsupprimierender Medikation kann man sich in der Praxis ohne klarere Anweisungen auch schnell überfordert fühlen. Wichtig ist hier eine klare Absprache in Hinblick auf die Verantwortung bei der Aufklärung und Durchführung zwischen Fach- und Hausarzt. Sicher ist, dass eine Impfaufklärung über Möglichkeiten und Notwendigkeiten von Schutzimpfungen im Rahmen des Ansetzens immunsupprimierender Medikation verpflichtend stattzufinden hat.
Geringerer Schutz besser als gar kein Schutz
Ein häufigeres Argument, warum notwendige Impfungen bei Immunsupprimierten nicht durchgeführt werden, ist das oben erwähnte schlechtere Ansprechen auf Schutzimpfungen. In diversen Studien ließ sich das auch nachweisen. Ein schlechteres Ansprechen bedeutet jedoch nicht kein Ansprechen, und gerade für die Gruppe besonders gefährdeter Patienten ist auch ein geringerer Schutz besser als gar kein Schutz.
So ließ sich zum Beispiel sogar unter der B-Zell-depletierenden Medikation Ocrelizumab eine Seroprotektion gegen Influenza zwischen 55,6 und 80 % in Abhängigkeit vom jeweiligen Subtyp nachweisen. Bei der COVID-19-Impfung mit mRNA-Impfstoffen zeigte sich bei Erkrankungen wie soliden Tumoren, HIV und Autoimmunerkrankungen eine gute Immunogenität, die jedoch vor allem bei Organtransplantierten und hämatoonkologischen Patient:innen stark eingeschränkt war. Auch die Impfung Immunsupprimierter macht also durchaus Sinn.
Die Aufklärung und Impfung ist in der Praxis leider insgesamt sehr zeitraubend, da über eine Vielzahl an Impfungen neben den Standardimpfungen aufgeklärt werden muss - und das häufig bei Patienten, die gerade emotional noch mit der Diagnose oder Verschlechterung einer lebensverändernden Erkrankung oder deren Therapie beschäftigt sind. Da die Impfungen jedoch nach Möglichkeit vor Ansetzen der Therapie erfolgen sollten, kann häufig nicht einfach abgewartet werden.
Da Aufklärung und Impfung bei Immunsupprimierten nicht besser vergütet werden als bei Gesunden, also die komplexe Aufklärung gar nicht und die Impfungen häufig unterhalb der verursachenden Kosten, (viele der Impfungen müssen auf Einzelrezepten ausgestellt werden), lohnt sich der Aufwand zumindest finanziell für die Praxis meist nicht. Für den/die Patienten/-in ist es jedoch durchaus ein Mehrgewinn.
Problem der Kostenübernahme am Beispiel Herpes zoster ...
Einzelne Impfungen stellen uns vor besonders komplexe Aufgaben. Gerade im Bereich der Impfungen von Immunsupprimierten ist das Risiko für eine Gürtelrose bei multipler Sklerose zum einen durch die Krankheit selbst, zum anderen zusätzlich durch eine häufig angewandte immunsuppressive Therapie deutlich erhöht. Gerade bei dieser Erkrankung, wie auch bei vielen rheumatologischen Erkrankungen handelt es sich häufig um Patient:innen, die deutlich jünger als 50 Jahre alt sind. Der adjuvantierte Totimpfstoff gegen Herpes zoster ist zwar inzwischen ab 18 Jahren zugelassen, die Empfehlungen der STIKO sind seit der Änderung diesbezüglich aber nicht überarbeitet worden. Für die immunsupprimierten Patient:innen besteht damit bei einem sehr teuren Impfstoff, der zweimal gegeben werden muss, das Problem der Kostenübernahme. Die Erfahrung zeigt, dass viele Krankenkassen auf ein entsprechend begründetes ärztliches Schreiben mit der Bitte um Erstattung positiv reagieren - sicher auch im Bewusstsein der hohen Folgekosten einer Erkrankung unter immunsuppressiver Therapie. Für den impfenden Arzt ist das jedoch ein zwar sinnvoller, aber eigentlich vermeidbarer Mehraufwand.
... und am Beispiel Pneumokokken-Impfstoffe
Ähnlich stellt sich die Situation bei den höhervalenten Pneumokokkenkonjugat-Impfstoffen PCV 15 und 20 dar, die beide verfügbar sind, deren Daten seit längerer Zeit vorliegen und bei denen es noch an einer Aussage der STIKO zum Umgang und damit auch zur Erstattung fehlt. Dass ein höhervalenter Impfstoff auf gleicher Impfstoffbasis gerade in einer Personengruppe, für die aktuell eine sequenzielle Impfung mit einem 13-valenten Pneumokokkenkonjugat-Impfstoff (PCV13) gefolgt von einem 23-valenten Polysaccharid-Impfstoff (PPSV23) empfohlen wird, mindestens im Ersatz von PCV13 sinnvoll ist, ist sehr wahrscheinlich. Auf der einen Seite wäre gerade in solchen Fällen eine raschere Bearbeitung der Impfthemen und Stellungnahme der STIKO sicher wünschenswert, auf der anderen Seite kann das auf ehrenamtlicher Basis bei der Fülle an Aufgaben und hohen Belastung durch die COVID-19-Pandemie auch nicht unbedingt erwartet werden.
In der Pandemiesituation hat die STIKO gezeigt, dass die angelegten Prozesse funktionieren, um zu einer validen Empfehlung auf Basis der vorhandenen Daten zu kommen. Dennoch sollte man sich Gedanken machen, wie man das Gremium weiter stärken kann, um die deutschen Impfempfehlungen auf einem aktuellen Stand zu halten. Gerade im Hinblick auf die Vielzahl kommender Entwicklungen im Impfbereich wäre eine strukturelle Stärkung der STIKO wünschenswert.
Dr. med. Markus Frühwein, München