Das Gesundheitssystem in Deutschland steht vor gewaltigen Herausforderungen. Die demographische Entwicklung mit einem zunehmenden Anteil älterer Menschen wirft bereits heute ihre Schatten voraus. Eine Ende 2019 veröffentlichte Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung geht davon aus, dass sich ab Mitte der 2020er Jahre die Schere zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern wieder öffnen wird. Bis 2040 rechnet die Studie mit einem Defizit von rund 50 Milliarden Euro – die Zeit der Beitragsüberschüsse neigt sich unwiderruflich dem Ende entgegen. Gleichzeitig ergeben sich durch die Digitalisierung in der Medizin große Chancen, Prävention und Krankenversorgung auf ein bislang unbekanntes Niveau zu heben und damit vielem Menschen zu einem längeren und gesünderen Leben mit mehr Lebensqualität zu verhelfen. Dies erfordert allerdings Investitionen in medizinische Geräte und Anlagen, in eine leistungsfähige IT-Infrastruktur und nicht zuletzt in hervorragende Mitarbeiter.
Niedergelassene Ärzte als wichtige Stakeholder
Es stellt sich also die Frage, wie man die großen Chancen der Digitalisierung nutzen und gleichzeitig das Gesundheitswesen leistungsfähig halten und zukunftsfest gestalten kann. Den beiden wichtigsten Stakeholdern, nämlich den niedergelassenen Ärzten sowie den knapp 2.000 Kliniken in Deutschland, kommt bei dieser wahrhaften Generationenaufgabe eine zentrale Bedeutung zu. Es geht um nicht weniger, als gemeinsam und partnerschaftlich mit Mut und neuem Denken die Gesundheitsversorgung von morgen aufzubauen. Denn die traditionelle Struktur des Gesundheitswesens wird die großen Herausforderungen erkennbar nicht bewältigen können.
Smart Hospital als Gegenentwurf zum tradierten Medizinbetrieb
Seit 2015 befindet sich die Universitätsmedizin Essen auf dem Weg zum Smart Hospital, in vielerlei Hinsicht der Gegenentwurf zum tradierten Medizinbetrieb. Wir verstehen Smart Hospital als eine nach allen Seiten informationsoffene Steuerungsplattform im Zentrum des staatlichen Gesundheitssystems. Sie ist dabei eng verzahnt mit allen vor- und nachgelagerten medizinischen Dienstleistungen, also vor allem den niedergelassenen Ärzten, aber auch Rehabilitationseinrichtungen, ambulanten Pflegediensten, Apotheken und allen anderen Stakeholdern des Gesundheitswesens. Nicht die Mauern der Klinik, sondern die Gesundheits- und Krankengeschichte der Patienten definiert dabei den Wirkungskreis. Auch dies ist ein weiterer Paradigmenwechsel, denn es bedeutet konkret, dass weniger die „Reparaturfunktion“, sondern vielmehr die lebenslange Betreuung im Zentrum der medizinischen Versorgung steht. Von der Zeugung bis hin zum Tod und der anschließenden Trauerbegleitung – das Smart Hospital hat den Anspruch, dem Menschen ganzheitlich und umfassend zu dienen, statt nur in durch Krankheit bedingten Ausnahmesituationen.
Wohlbefinden des Menschen im Fokus
Diese „Patient Journey“ mit einem starken Focus auf Prävention ist eine starke Klammer zwischen den Aufgaben der niedergelassenen Ärzte und denen der Kliniken. Dazu müssen die Sektorengrenzen durchlässiger und das Elfenbeinturmdenken weiter überwunden werden. Auch dabei hilft die Digitalisierung, etwa durch die elektronische Patientenakte, die wir in der Universitätsmedizin Essen konzernweit eingeführt haben und die nicht nur klinikintern, sondern auch im Austausch mit den Ärzten einen effizienten Datenfluss ohne Reibungsverluste, überflüssige Doppeluntersuchungen und damit auch eine signifikant gesteigerte Patientensicherheit gewährleistet.
Das Smart Hospital ist jedoch kein Selbstzweck. Es ist getrieben von der Vorstellung, den Menschen und sein Wohlbefinden noch viel stärker als bislang in das Zentrum des Handelns zu stellen – sei es als Patientin oder Patient, als Angehöriger oder unsere Mitarbeiter. Bislang ist der Mensch im Gesundheitswesen allzu oft nicht Subjekt, sondern Objekt einer tradierten Maschinerie, die weniger um ihn und seine Bedürfnisse als vielmehr um sich selbst kreist. Diese Selbstzentrierung will das Smart Hospital aufbrechen, indem Prozesse und Strukturen aus Sicht der Patienten, ihrer Angehörige und unserer Mitarbeiter betrachtet und optimiert werden. Dieser humane, empathiegetriebene Ansatz ist kein Widerspruch zur Digitalisierung und dem Einsatz modernster Technologie bis hin zu Algorithmen und Künstlicher Intelligenz. Vielmehr ist die Digitalisierung Voraussetzung dafür, Menschen zu entlasten und damit in einer zunehmend von wirtschaftlichen Zwängen geprägten Gesundheitswirtschaft auch das ärztliche Ethos wiederzubeleben.
Niedergelassener Arzt als digitaler Partner
Bei dieser großen Aufgabe sind Kliniken und niedergelassene Ärzte digitale Partner. Künftig wird es nicht nur ein Smart Hospital als Stand-alone Lösung geben - ein Widerspruch an sich -, sondern wir reden über eine vernetzte Struktur des Gesundheitswesens, in denen die Bedeutung der Krankenhäuser als Ort der physischen Behandlung von Patienten abnehmen wird. An Bedeutung gewinnen hingegen wird die Funktion als Datenplattform, werden ambulante Versorgungsmodelle, Telemedizin und Telekonsile oder die permanente Überwachung von Vitaldaten durch Wearables - alles Bereiche, in denen künftig Kliniken und niedergelassene Ärzte noch intensiver eng und sektorenübergreifend zusammenarbeiten. Schnelle Überweisungen, zeitnahe Rückmeldung von Untersuchungsergebnissen, eine abgestimmte Therapie, das sind bereits ganz konkrete Bereiche, in denen die niedergelassenen Ärzte vom Smart Hospital profitieren können. Gesundheitsclouds können dabei als Informationsplattform für den Gesundheitsdatenaustausch zwischen Fach-, Haus- und Klinikärzten zukünftig genutzt werden. Von besonderem Interesse für die schnelle, sektorenübergreifende Weitergabe sind dabei z.B. Laborwerte, Histologien und Bildgebungen
Bessere Versorgung in ländlichen Gegenden
Durch das Teilen und den Austausch von Informationen können auch kleinere Häuser sowie niedergelassene Ärzte an der Expertise großer Häuser sowie Universitätskliniken teilhaben. Das nutzt den Patienten und trägt maßgeblich dazu bei, strukturelle Schwächen des Gesundheitssystems, etwa die medizinische Versorgung in ländlichen Regionen, zu verbessern und medizinisches Expertenwissen auch dorthin zu bringen. Die Politik ist aufgefordert, die Leitplanken für die Digitalisierung zu setzen und die Finanzierung dieser Zukunftsaufgabe für alle Akteure zu sichern, so wie es eben auch für das Schulwesen oder die Deutsche Bahn auf den Weg gebracht ist. Ein viele Milliarden Euro schweres Investitionsprogramm zur zukunftsorientierten Digitalisierung im Gesundheitswesen ist allerdings auch nur ein Teil der unausweichlichen Maßnahmen. Zusätzlich müssen forschungsfreundliche Rahmenbedingungen zum Umgang mit relevanten Daten festgelegt und die Wichtigkeit dieser Maßnahmen zielorientiert kommuniziert werden, da weitere zögerliche oder destruktive Diskussionen Deutschland im gesamten Gesundheits- und Krankenwesen nicht nur wissenschaftlich ins absolute Hintertreffen geleiten, sondern die so notwendige und überfällige patientenorientierte Interaktion der verschiedenen Stakeholder weiterhin behindern werden.
Das Smart Hospital ist vor diesem Hintergrund nicht nur eine zentrale, auf den Menschen fokussierte Steuerungseinheit. Es ist auch ein wesentlicher Treiber von Strukturveränderungen in der deutschen Gesundheitslandschaft hin zu einer besseren Medizin.
Prof. Dr. Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor der Universitätsmedizin Essen

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Digitalisierung als Chance: Smart Hospital
Auf dem Weg zur neuen digitalen Partnerschaft: Wie das Smart Hospital die Zusammenarbeit zwischen Klinik und niedergelassenen Ärzten verbessert.