Unter dem Begriff familiäre Hypercholesterinämie (FH) werden genetisch bedingte Stoffwechselerkrankungen subsummiert, deren gemeinsamer Nenner ein verzögerter Abbau der LDL ist. Sie werden zumeist autosomal (ko)dominant vererbt und sind regelhaft mit dem vorzeitigen Auftreten atherosklerosebedingter Komplikationen verbunden. Der Begriff FH (ICD-10-GM-2019 E 78.0) bezog sich zunächst nur auf LDL-Rezeptor-Defekte. Für den Einschluss weiterer ursächlicher Gen-Defekte (APOB, PCSK9, LDLRAP1), die zu einem ähnlichen Phänotyp führen können, ist auch die Diagnose autosomal-dominante Hypercholesterinämie (ADH) vorgeschlagen worden, diese Terminologie hat sich aber nicht durchgesetzt.
Pathogenese und Genetik
Mit der 1985 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Entdeckung des rezeptorvermittelten LDL-Cholesterin-Katabolismus in kultivierten Fibroblasten eines Kindes mit homozygoter FH war erstmals eine molekulare Ursache der FH erkannt worden1. Mutationen des Low-Density-Lipoprotein-Rezeptors (LDLR) sind die häufigsten genetischen Ursachen einer familiären Hypercholesterinämie.
Die Differenzierung der Mutationen in 5 Klassen hat weitere pathophysiologische Implikationen. Die Zuordnung in Klasse 1 (synthesis of receptor) bedeutet beispielsweise die vollständige Abwesenheit des Rezeptor-Proteins, auch mit der Konsequenz, dass die Wirkung von PCSK9-Inhibitoren ausbleiben kann.
Apolipoprotein B (ApoB)-Mutationen und PCSK9-Gain-of-function-Mutationen sind weitere Erklärungen für einen FH-Phänotyp. Mutationen des LDLR Accessory Protein 1 (LDLRAP1) liegen der sehr seltenen autosomal rezessiven Hypercholesterinämie (ARH) zugrunde.
Klinische Bedeutung
Die FH ist paradigmatisch für den Stellenwert von Cholesterin in der Pathophysiologie der Atherosklerose. Bei Patienten mit FH wird die kumulative LDL-Cholesterinexposition, ab der sich eine KHK typischerweise manifestiert, früher als in der Normalbevölkerung erreicht. Im Gegensatz dazu wird dieser Schwellenwert bei PCSK9-Loss-of-Function-Mutationsträgern mit lebenslang niedrigem LDL-Cholesterin deutlich später erreicht. Wie in der Allgemeinbevölkerung wird der kritische Schwellenwert der kumulierten LDL-Cholesterin-Exposition auch bei FH durch die konventionellen kardiovaskulären Risikofaktoren wie männliches Geschlecht, Rauchen, Diabetes mellitus oder Hypertonie abgesenkt.
HoFH-Patienten sind unbehandelt, von früher Kindheit an, von kardialem Tod oder nichttödlichem Myokardinfarkt als Folgen koronarer Atherosklerose und supravalvulärer Aortenstenosen bedroht2.
Zum Ausdruck des erhöhten KHK-Risikos bei heFH gehört, dass bei 50 % der Männer bereits vor dem 50. Lebensjahr ein Myokardinfarkt auftritt. Bei Frauen mit heFH liegt die Infarkt-Inzidenz bis zum 60. Lebensjahr bei 30 %3.
Für die hohe Variabilität des klinischen Phänotyps bei FH spielt neben genetischen Merkmalen das Zusammentreffen mit weiteren Risikofaktoren eine wichtige Rolle4. Besonders bedeutsam ist eine Vergesellschaftung der FH mit Lp(a)-Erhöhungen5.
Klinische Diagnostik
Bei einer isolierten LDL-C-Erhöhung >400 mg/dl (>10 mmol/l), dem Vorhandensein von Xanthomen, von Atherosklerose-Manifestationen und einer familiären Häufung dieser Komponenten ist unbedingt an eine hoFH zu denken. Für das mögliche Vorliegen einer heFH sprechen LDL-C >190 mg/dl (>4,95 mmol/l) und die oben genannten Befunde in geringerer oder späterer Ausprägung. Aufsatzpunkt ist eine LDL-C-Erhöhung >190 mg/dl (4,9 mmol/l) bei Erwachsenen und >155 mg/dl (4,0 mmol/l) bei Kindern/Jugendlichen unter 16 Jahren. Die klinische Diagnose einer FH ist bei familiärer Manifestation und/oder vorzeitigen Manifestationen atherosklerosebedingter Erkrankungen plausibel. Zum Ausmaß der LDL-C--Senkung liegt inzwischen die Leitlinienempfehlung mit einem niedrigeren Zielwert vor.
Die genetische Diagnose erlaubt eine Verifizierung der klinisch begründeten Annahme einer FH und deren prognostische Bewertung und liefert eine gute Begründung für eine intensive Cholesterinsenkung. Die Empfehlung der genetischen Diagnose einer FH ist in aktuellen Leitlinien aufgenommen worden6,7.
Therapie
Daten aus Beobachtungsstudien legen nahe, die Behandlung auch bei heFH möglichst früh zu beginnen6. Die positiven Outcome-Daten eines 20-jährigen Follow-up von Statin-behandelten Kindern mit FH sind ein bedeutender Beitrag zur therapeutischen Evidenz der LDL-Cholesterin-Behandlung9. Mit einer mittleren LDL-C-Senkung um 32 % gingen eine verzögerte Zunahme der Intima-Media-Dicke der Karotiden und eine Senkung des kardiovaskulären Risikos einher. Die Studie unterstreicht den hohen patientenrelevanten Nutzen früher Diagnostik und Therapie der familiären Hypercholesterinämie.
Für die Behandlung von FH-Patienten mit klinisch manifesten kardiovaskulären Komplikationen empfehlen die Leitlinien einen LDL-C-Zielwert <55 mg/dl (<1,4 mmol/l) plus eine Senkung um ≥50 % vom Ausgangswert6. Dies sollte bei Patientinnen und Patienten mit FH auch in der Primärprävention, erwogen werden, das heißt, wenn sich noch keine klinischen Folgen der Atherosklerose manifestiert haben.
Standard ist eine hochintensive Statin-Behandlung, mit der durchschnittliche LDL-C-Senkungen um 50 % zu erwarten sind. FH-typische LDL-C-Erhöhungen von >190 mg/dl (>4,9 mmol/l) machen Kombinationstherapien notwendig. Sie verstärken die mögliche LDL-C-Senkung bei FH in variablem Ausmaß. Als Kombinationspartner kommen Ezetimib, Anionenaustauscher wie Colesevelam und Bempedoinsäure jeweils allein oder auch als Vielfachkombination infrage.
Wenn das Behandlungsziel mit den oralen Kombinationen nicht erreicht werden kann, ist die Verordnung von PCSK9-Inhibitoren eine Klasse-I-Empfehlung. Eine PCSK9-Inhibitor-Behandlung kann bezüglich des LDL-C-Effekts oft eine sonst indizierte Apherese-Behandlung ersetzen12,13.
Der Effekt der Therapie bei hoFH hängt von der Art der Mutation ab. Inclisiran, eine small interfering RNA (si-RNA), hemmt im Gegensatz zu den extrazellulär wirkenden PCSK9-Antikörpern Evolocumab und Alirocumab intrazellulär die PCSK9-Synthese.
Neue therapeutische Ansätze der LDL-C-Senkung
HoFH-Patienten bleiben im Allgemeinen auf eine Apherese-Behandlung angewiesen. Die hiermit verbundene Senkung der Mortalität weist auch auf den hohen therapeutischen Stellenwert der LDL-C- Senkung überhaupt hin18.
Für hoFH-Patienten werden die Verträglichkeit und Wirksamkeit weiterer lipidsenkender Substanzen untersucht:
Der monoklonale Antikörper Evinacumab hemmt ANGPTL3 (Angiopoetin ähnliches Protein 3). Die Therapie mit einem ANGPTL3-Antikörper wirkt unabhängig von der LDL-Rezeptorfunktion LDL-C-senkend. Unter vierwöchiger Gabe von Evinacumab zeigte sich in einer 24 Wochenstudie bei hoFH eine LDL-C-Reduktion um 49 % bei einem akzeptablen Sicherheitsprofil. Evinacumab hat in der EU die bedingte Zulassung.
In Deutschland nicht zugelassen ist das Apoprotein B 100 Antisense Oligo nukleo-tid Mipopersen. Die Substanz senkt das LDL C, indem es die Bildung von VLDL (Very Low Density Lipoprotein) in der Leber hemmt. Als problematisch gelten potenzielle Nebenwirkungen: Bei manchen Patienten wurden ein Anstieg der Transaminasen und die Entwicklung einer Fettleber beobachtet.
Bei Lomitapid handelt es sich um einen selektiven Inhibitor des mikrosomalen Triglycerid Transfer Proteins (MTP). Ähnliches in Bezug auf potenzielle Nebenwirkungen gilt im Prinzip auch für diese Substanz. Lomitapid ist eine Option bei schwersten hoFH-Manifestationsformen, bei denen beispielsweise eine wöchentliche Apherese nicht ausreicht. Die Anwendung findet in Zentren unter engmaschiger Überwachung von Wirkung und Sicherheit statt.
Epidemiologie der familiären Hypercholesterinämie
Mit einer geschätzten Prävalenzrate von 300 auf 100.000, entsprechend etwa 275.000 Patienten in Deutschland, ist die FH in heterozygoter Merkmalsform die häufigste monogenetische Erkrankung, die in der ärztlichen Praxis vorkommt10. Als Prävalenz der homozygoten Ausprägung der FH (hoFH) wird 1:860.000 angegeben. In Bevölkerungsgruppen, in denen die FH häufiger ist, können hoFH-Prävalenzen zwischen 1:35.000 und 1:275.000 auftreten11. Zu solchen Bevölkerungsgruppen gehören Angehörige -sogenannter Founder Generations in Südafrika und Kanada oder Populationen mit einem hohen Anteil konsanguiner Elternschaften wie in der Türkei oder im Libanon.
Prof. Dr. med. Gerald Klose, Praxis für Innere Medizin, Gastroenterologie, Kardiologie und Präventionsmedizin, Bremen