Es war und ist nicht anders zu erwarten: Die Reaktionen auf die Einführung von Instrumenten der Künstlichen Intelligenz (KI) in die diagnostische Radiologie (KI-RAD) sind gespalten. Die computerassistierte Diagnostik (CAD) leistet zwar seit langem und in vielen Bereichen gute Dienste und ist aus dem radiologischen Arbeitsalltag nicht mehr wegzudenken; ihre Leistungsfähigkeit und Praxistauglichkeit sind auch zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Frage gestellt worden. Radiomics und verwandte Module der KI aber werden nicht mehr nur Adjutanten des Radiologen, sondern veritable Konkurrenten sein. Dennoch sind das Wohlwollen im Allgemeinen und die Bereitschaft zur Kooperation in vielen Teilbereichen mit für einen derart fundamentalen Wandel der Interpretationstechnik verblüffend hoher Geschwindigkeit gewachsen. Eine Reihe von Radiologen, nicht nur jene, die die Facharztausbildung bereits in einem digital geprägten Arbeitsfeld absolviert haben oder gerade absolvieren, erklären sich dazu bereit, die Programme der KI als zusätzliches Element der digitalen Instrumentierung radiologischer Auswertestationen anzuerkennen und in den Rang eines autorisierten Partners zu erheben.
Zunächst gilt es, die neuen Helfer sehr genau kennenzulernen. Die Aufmerksamkeit, die ihnen der Radiologe in der Annäherungsphase widmet, muss mindestens so groß sein wie jene, mit der er die physikalischen und technischen Grundlagen der verschiedenen bildgebenden Verfahren studiert hat und fortlaufend vertieft. Wer nicht über solide Kenntnisse der Verflechtungen zwischen Informatik und Radiologie verfügt, sollte sich auf den Versuch, in der täglichen Praxis mit KI-Modulen umzugehen, gar nicht erst einlassen. Wer im Rahmen der bildgebenden Diagnostik mit künstlicher Intelligenz kooperiert, muss die Charakteristika der für die verschiedenen Untersuchungstechniken, Organe und Krankheiten konzipierten Programme kennen, er muss wissen, wie die verschiedenen Applikationen kombiniert werden können, auf der Auswahl welcher Parameter die Entdeckung von Normabweichungen und die Annäherung an Diagnose und Differenzialdiagnose basieren und nach welchen Kriterien Vergleiche und Verlaufskontrollen durchgeführt, Entwicklungsprofile erstellt und Klassifikationen getroffen werden. In diesem Sektor des Fachwissens darf, auch wenn man gerne sofort starten und rasch Praxiserfahrung gewinnen möchte, keinesfalls ein Nachholbedarf entstehen; ein derartiges Versäumnis ließe sich kaum wettmachen.
Systeme müssen hohen Standards genügen
KI-Systeme für die Radiologie sind keine Unikate. Zahlreiche Anbieter drängen auf den Markt oder sind bereits dort angekommen. Die Fachorgane berichten ausführlich über die - zumeist positiven - Ergebnisse der Prüfung einzelner Programme; kontrollierte Untersuchungen sind aber eher noch selten. Der potenzielle Kunde der künstlichen Intelligenz ist also gehalten, selbst Vergleiche zwischen den verschiedenen Modulen anzustellen. Unverzichtbar ist dabei die Forderung nach lückenloser Information über das von den KI-Urhebern verwendete klinische Datenmaterial; an diesem Punkt dürfen den Lieferanten keine Zugeständnisse gemacht, will sagen, keinerlei Informationslücken geduldet werden. Die Angaben müssen aus Ländern stammen, deren Gesundheitssystem dem in Mitteleuropa vergleichbar ist. Zudem muss sichergestellt sein, dass die nicht-radiologischen Informationen fortlaufend aktualisiert werden; sonst sitzt der Nutzer nach kurzer Zeit auf einem Berg elektronischen Datenmülls.
Die Eignung eines Moduls für die tägliche Praxis kann nur dann bestätigt werden, wenn es sich in der ganzen klinischen Breite und Tiefe bewährt. Die Produzenten der revolutionären Software haben sich darauf einzustellen, dass ihnen die Forderung nach Einwilligung in einen mehr oder weniger langen Probebetrieb nicht erspart bleibt. Schließlich haben sie ein Instrument geschaffen, das den Radiologen nicht die Möglichkeit zu eigener schöpferischer Arbeit verschafft, sondern gewissermaßen eine Prothese in das intellektuelle Herzstück der Disziplin implantiert.
Anwendung genau reglementieren
Nicht erst dann, wenn das Modul schließlich fest installiert ist, stellt sich die Frage, wann bzw. wie oft man es in Anspruch nehmen soll. Hierzu sollte innerhalb jeder radiologischen Institution eine für alle Beteiligten verpflichtende Regelung getroffen werden; andernfalls muss jeder Arzt diese fundamentale Entscheidung für sich allein treffen. Diese Frage immer wieder von neuem aufzuwerfen, ist jedenfalls nicht realistisch. Grundsätzlich liegt es nahe, den einmal als Konkurrenten zugelassenen Interpreten regelhaft einzusetzen. Freilich bleibt es dem Arzt auch dann nicht erspart, zusätzlich festzulegen, ob das Modul vor oder nach der eigenen Begutachtung konsultiert wird, d. h. ob man sich einen Befund präsentieren lässt und die Fremdaussage der eigenen Bewertung zugrunde legt oder ob man zuerst selbst das Bildmaterial betrachtet, beurteilt und eine unterschriftsreife Diagnose erstellt und dann seine Meinung mit der des KI-Moduls vergleicht. Diese Entscheidung ist höchst verantwortlich und die Diskussion über das Pro und Contra der beiden Lösungen wird in Abhängigkeit vom Stand der Fachausbildung und dem Niveau der digitalen Expertise der Beteiligten wohl noch längere Zeit geführt werden. Es darf aber auf keinen Fall dazu kommen, dass man das Urteil des KI-Moduls als Begründung bzw. Entschuldigung für den auch nur partiellen Verzicht auf eine den Regeln der radiologischen Kunst entsprechende eigene Beurteilung verwendet. Selbst zu vorgerückter Stunde muss man der Verführungskraft dieser Lösung widerstehen.
Das KI-Modul ist mächtig, aber es signiert seine Aussagen nicht und antwortet auch nicht auf Nachfragen und kritische Anmerkungen. Diese Aufgaben muss der Radiologe, der den Assistenten zur Mitarbeit verpflichtet hat, übernehmen. Die Reaktion auf Gegenstimmen macht Mühe, kostet Zeit und bringt regelhaft Verdruss mit sich. Grundvoraussetzung für die Erfüllung dieser Verpflichtung ist die lückenlose Wiedergabe der Aussage des KI-Moduls im Befundbericht, d.h. die Dokumentation im Originalwortlaut. Der Konkurrent muss mit Namen und Adresse genannt werden, die Information über die Identität der elektronischen Quelle muss so selbstverständlich sein wie Literaturangaben in einer wissenschaftlichen Arbeit. Wenn das Urteil des Arztes und das des KI-Moduls übereinstimmen, kommt diesem Hinweis lediglich protokollarischer Charakter zu. Bei Widersprüchen hat der Radiologe Stellung zu nehmen und die eigene Interpretation gegen jene des Moduls zu verteidigen.
Der Griff nach der Information der künstlichen Intelligenz kann also für den Berichterstatter unangenehme Folgen haben. Abweichungen von der Aussage des KI-Moduls provozieren ein Bündel von Risiken und potenziell unangenehmen Maßnahmen. Wenn sich schließlich herausstellt, dass der Arzt Recht hat, muss wenigstens nicht mit einem Autoritätsverlust gerechnet werden; der für die Verteidigung erforderliche Aufwand kann aber auch dann beträchtlich sein. Wer sich mit Nachfragen von Patienten konfrontiert sieht, wird in die Formulierung der Stellungnahme u.U. mehr Zeit investieren müssen, als er für den Originalbericht benötigt hat und für die Besprechung des Befunds sowie zusätzliche Erläuterungen im Rahmen der konventionellen Beurteilung veranschlagt. Es wird dem Untersucher nicht erspart bleiben, im Detail zu erläutern, was er an der Aussage des KI-Moduls so unzutreffend fand, dass er sie partiell oder komplett nicht übernommen hat.
Wenn die KI-modulierte Bildinterpretation unter Druck gerät, weil analog tätige Radiologen so manches in der Informationswolke der alternativen Diagnostik drohende Unheil prognostizieren, lenken deren Befürworter die Aufmerksamkeit meist auf den Beitrag, den die Algorithmen für die individualisierte Präzisionsmedizin leisten sollen, und auf den sie einen Alleinvertretungsanspruch erhebt. In der Tat hat die konventionelle Beurteilung der Bilddokumente den der diagnostischen Analyse assoziierten Aussagen des KI-Moduls zu Therapie und Prognose nichts auch nur annähernd Vergleichbares entgegenzusetzen.
Auf der anderen Seite beruhen diese Hinweise auf Informationsmaterial, für dessen Richtigkeit die Vermittler keine Verantwortung übernehmen können. Aber auch wenn diese Daten aus verlässlichen Quellen stammen, müssen Zweifel an ihrer Allgemeingültigkeit und Treffsicherheit erlaubt sein. Noch viel wichtiger aber ist, dass die statistischen Korrelationen zwischen den KI-generierten radiologischen Parametern und den Resultaten histologischer, molekularbiologischer und genetischer Diagnostik, mögen die Vorhersagen auch bisweilen in 80 oder sogar 90 Prozent der Fälle zutreffen, die Durchführung der entsprechenden Untersuchungen im Verlauf der Behandlung jedes einzelnen Patienten in keinem Fall ersetzen. Es ist auch nicht Aufgabe der Radiologie, dem Befundbericht fachfremde Zusatzinformationen unbekannten Verfallsdatums beizulegen. Die therapeutischen Empfehlungen und prognostischen Aussagen, die von der KI getroffen werden, haben für die Behandlung des einzelnen Patienten allenfalls orientierenden Wert und sind das fragilste und ohne Zweifel am ehesten entbehrliche Element des KI-Bulletins.
Verselbstständigung der KI-Diagnostik
Die Inklusion der KI in die Interpretation bildgebender Diagnostik wird nicht auf die akademische Disziplin begrenzt bleiben. Auch wenn die Radiologen sich dafür einsetzen, sie in ihre Arbeit zu integrieren, werden sich die KI-Anwendungen verselbständigen, d.h. neue Einsatzgebiete ausfindig machen und dort eine führende Position zu gewinnen suchen. Bis es so weit ist, wird wohl noch etwas Zeit vergehen. Es ist jedoch unschwer abzusehen, dass KI-Module für jeden, der sie benutzen möchte und bereit ist, dafür zu bezahlen, frei zugänglich sein werden. Die Patienten werden dazu in Eigenverantwortung ihre auf CD/DVD oder dem Smartphone gespeicherten radiologischen Datensätze durch das von ihnen favorisierte Modul auswerten lassen. Je mehr persönliche Angaben und weitere medizinische Informationen sie zusätzlich preiszugeben bereit sind, umso präziser wird die Einschätzung durch die KI sein, weil das Programm den individuellen Fall dann treffsicher mit denen der am besten dazu passenden Subkohorte seiner Datensammlung vergleichen kann. So können Nachtrags- und Zweitbefunde rasch erstellt werden.
Die Konsequenzen dieser Art der bevölkerungsweiten Nutzung der KI-basierten Bildinterpretation liegen auf der Hand. Die Patienten und ihre Angehörigen werden die unter Assistenz der KI-Module gewonnenen Auswertungen mit dem Originalbefund vergleichen, bei Unstimmigkeiten und Widersprüchen den verantwortlichen Arzt kontaktieren und um Auskunft und Klärung bitten. Die entsprechenden Internetportale werden also jeden, der es darauf abgesehen hat, zum Qualitätskontrolleur der radiologischen Diagnostik befördern. Damit rückt KI-RAD 2.0 zum Greifen nahe. Je schwerer die Befunde und Diagnosen wiegen, desto rascher und nachdrücklicher wird der Arzt um Rücksprache gebeten und desto intensiver werden die Diskussionen geführt werden. Der Radiologe kann sich für Fälle dieser Art in nicht allzu ferner Zukunft schon einmal einen halben Tag seiner Arbeitswoche reservieren. Er wird gezwungen sein, aus der angestammten Position als unabhängiger Sachverständiger in die Rolle des Datenverwalters, Sekundärinterpreten und Informationsmaklers zu wechseln. Es wird von ihm erwartet, dass er zwischen der eigenen Beurteilung und den Aussagen der verschiedenen Module vermittelt und dann eine Entscheidung trifft. Damit mutiert das Arzt-Patienten-Gespräch zu einer Art unfreiwilliger diplomatischer Mission und einem Zerrbild des vertraulichen Dialogs, der fester Bestandteil der konventionellen Befunderhebung und -übermittlung ist. In Kenntnis dieser Perspektive kann man verstehen, dass manche Radiologen die analoge Form der Interpretation des Bildmaterials verteidigen und so lange wie möglich zu erhalten suchen.
Radiomics & Co.
Die künstliche Intelligenz erobert die bildgebende Diagnostik. Anders als bei der seit langem etablierten computerunterstützten Auswertung werden seit wenigen Jahren von den Rechnern die vollständigen Bilddatensätze bearbeitet. Zur Analyse eignen sich neben der Mammographie vor allem Computertomographien (CT), Magnetresonanztomographien (MRT), Positronenemissionstomographien (PET) und die zugehörigen Hybridverfahren. Die Software extrahiert und analysiert zahlreiche quantitative Bildparameter. Mit ihrer Hilfe werden verdächtige Läsionen identifiziert und u. a. nach Form, Kontur und Textur klassifiziert. Die Applikationen transferieren die gewonnenen Informationen in fächerübergreifende Datenbanken und ordnen sie dort anderen radiologischen sowie klinischen, genetischen, laborchemischen und histologischen Daten zu. Auf diese Weise werden Diagnosen und Differenzialdiagnosen generiert. Die neuen, kommerziell erhältlichen Module sind bisher vor allem in der Tumormedizin eingesetzt worden, eignen sich aber auch für die Erkennung und Verlaufskontrolle anderer Erkrankungen.